Verdis „Nabucco“ als halbszenisch-konzertante Sternstunden bei den Internationalen Maifestspielen Wiesbaden 2023. Von Barbara Röder.
Draußen vor dem Staatstheater Wiesbaden flattern die ukrainischen Flaggen, hochgehalten von nahezu 300 Demonstranten, welche „Schande“ und „No Netrebko“ rufen. Plakate mit blutigen Botschaften, aufgebrachte Ukrainer stehen Spalier. Die Polizei riegelt die Aufgänge zu den Kolonnaden zum Staatstheater ab. Damen und Herren im Abendkleid und feinem Zwirn schlürfen Sekt und Aperol. Einige lassen sich ganz prominent fotografieren. Ja, man muss über die exaltierte Opern-Diva, die mediale Proteststürme hervorrief wegen ihrer angeblichen Putin-Nähe und dann ihr fulminantes Rollendebüt als „Abigaille“ in Verdis Freiheitsoper „Nabucco“ hier in Wiesbaden bei den diesjährigen Maifestspielen gab, sprechen. Rein künstlerisch natürlich, denn alles ist gesagt und im Vorfeld durch die Medien und etliche Foren gegangen.
„Flieg, Gedanke, auf goldenen Schwingen“ steht als humanes Bekenntnis, als Motto-Headline über den diesjährigen Internationalen Maifestspielen Wiesbaden. Seit 127 Jahre stehen sie für Offenheit, Internationalität und Kreativität. Intendant Uwe Erich Laufenberg widmet die Festspiele allen politisch Gefangenen in aller Welt. Dass ausgerechnet die derzeit berühmteste und gleichzeitig umstrittenste Opernsängerin der Welt für die große Partie der Abigaille in „Nabucco“ zweimal engagiert wurde, traf vielerorts auf kopfschüttelnde Fassungslosigkeit. Von Anna Netrebko, der Primadonna assoluta mit russischem und österreichischem Pass, ist die Rede. Aktuell und brisant war Verdis Freiheitsoper schon, als sie 1842 in Mailand uraufgeführt wurde. Und sie ist es noch immer. Sie entsprach dem Zeitgeist und stand für das wachsende Risorgimento („Wiedererstehung“). Eine italienische Identität, ein italienischer Nationalstaat wurde vom Volk nach Fremdherrschaften durch die Habsburger und Franzosen gefordert. Verdis „Nabucco“ lieferte mit dem Chor der in Babylonien gefangenen Hebräer, „Va, pensiero, sull’ali dorate“ die Freiheitshymne par excellence bis heute. Der Story von „Nabucco“, dem biblischen Eroberer Jerusalems und heidnischen König der Babylonier, der die feindlichen Hebräer unterjocht, wahnsinnig vor Ruhm und Gotteslästerung wird, um sich dann geläutert zum israelischen Glauben zu bekennen, hat Verdi ein tönendes Denkmal gesetzt.
Diese psychologisch diffizile Titel-Charakterpartie weiß der charismatische Bariton Željko Lučić mit beißendem Wahn, Selbstzweifeln und großem balsamischem Timbre auszuloten. Er erneuerte seinen Ruf als Ausnahmeinterpret. Sein Gesang berührt das Herz. Noch beharrlicher, intensiver sogar gelingt der Nabucco am zweiten Abend. Denn alle waren, ganz auf die Musik und nicht mehr auf das politische Geschehen vor dem Theater, die stattfindende Demo, konzentriert.
Anna Netrebko schöpft als Abigaille aus dem Vollen ihres enormen Talentes. Sie gestaltet mit voluminöser Tiefe, gurrender ausladender Opulenz. Ihre geschleuderten Spitzentöne wirken wie scharfe Krallen, die sich in den Himmel recken. Abigaille, die unrechtmäßige Tochter Nabuccos, Tochter einer Sklavin nämlich, ist jenes eiskalte Luder, das alles an sich reißt und die zum Schluss bereut. Für Anna Netrebko ist es ein exaltiertes, respektables Rollendebüt geworden, das in seiner Eindringlichkeit Jubel entfacht. Sie singt mit eisigem, unterkühlem Perfektionswillen und minutiös kalkulierter Genauigkeit. „Verdammt mich nicht“ fordert flehend Abigaille im Dialog mit dem klangschönen, dahin gehauchte Cellosolo (Johann Ludwig). Das bleibt in Erinnerung ebenso wie das wunderbare Zacharias begleitende Celloquartett und die surrende hohe Flöte im Finale der Oper. Young Doo Park gestaltet balsamisch den weisen immer im Wohllaut tönenden Zaccaria mit vollen Bass. Ioan Hoteas (Ismaele) gestaltet emotional intensiv mit strahlender Tenornoblesse. Fleuranne Brockway lies als leidende Fenena keine Wünsche offen. Ihr Sopran strahlt wie glitzerndes Geschmeide. sehr gut besetzt sind die Partien von Abdallo (Gustavo Quaresma), Gran Sacerdote (Mikhail Biryukov), Anna (Anastasiya Taratorkina). Eine goldene Sitzbank, eine Goldkrone, ein Dolch, ein Schwert und ein Fetzen Papier (Dokument): Mehr braucht es nicht, diesen halbszenisch-konzertanten, von Silvia Gatto eingerichteten „Nabucco“ zum klangintensiven Spektakel zu katapultieren.
Wer ganz genau hinschaut, kann eine versteckte, intensiv leuchtende Botschaft imaginieren, die auf der Bühne vorherrscht: ein breiter blauer Streifen, der sich unter den Stühlen fortsetzt und eine goldene (gelbe) rechts Bank im Vordergrund: das Symbol der Ukrainischen Flagge. Das ist ein Statement! Eine starke Ensembleleistung, ein glamouröser Chor und die feurig spielenden Musiker des hessischen Staatsorchesters Wiesbaden musizierten auf hohem Niveau. Dirigent Michael Güttler löst sich von seinem eher statischen Dirigat des ersten Abends im zweiten Abend und setzt beharrlich auf fließendere Melodien.
Lange Standing Ovations für die Grande Dame Anna Netrebko und das komplette Nabucco-Ensemble. Bravissimo. Viva Verdi!
Zwei Tage später dann Verdis wunderbar gesungen Rigoletto von Željko Lučić. Diese Partie ist die Rolle seines Lebens und Inkarnation eines leidenden, vom Fluch verfolgten Menschen. In der eher plakativ, in einer von Sex bestimmten Männerwelt muss Rigoletto sich behaupten, damit er nicht untergeht und finanziell überlebt. Er gibt den Clown. Grotesk, bitter und ein wenig verloren. Die Inszenierung stammt von Uwe Eric Laufenberg aus dem Jahr 2019. Eine Vor-Corona Produktion also. Auf der Bühne von Gisbert Jäkel tummeln sich sexy Ladys in Latex und sie dürfen auch mal als Tischchen und Hocker benutzt werden. Ein Riesenpenis in Marmor zeigt auf, welch Geist im Hause vom Herzog von Mantua herrscht. Eine Uhr verweist auf diverse Stellungen beim nächtlichen Miteinander. Die schlichte Behausung Nabuccos und dann der Wohnwagen-Schrottplatz vom Mörder für Geld runden die Szenerie ab.
Magdalena, hängt ihre Tangas auf, Gilda endet nach dem Dahingemeuchel durch Sparafucile in der Tonne. Damen der Lust drehen in nun weißem Latex mit Regenschirmen -aha gleich kommt der Sturm- eine Runde um den schäbigen Wohnwagen, die Behausung Sparafuciles und seiner Schwester Maddalena. (Kostüme: Andrea Schmidt-Futterer) Eine enttäuschende Inszenierung, die Dank der erstklassischen Interpreten und des hervorragend spielenden Hessischen Staatsorchesters Wiesbaden unter dem Dirigat von Will Humburg restlos begeistern konnte.
Der tiefsinnige Rigoletto gesungen von Wunderbariton Željko Lučić hatte innigste Momente mit Anastasiya Taratorkina (Gilda),welche eine Ausnahmeerscheinung ist. Ihre Gilda geriet subtil und traumschön in den hohen Lagen. Sie schenkte dem Publikum ein glaubhaftes Rollenporträt dieser wahnsinnig liebenden Figur. Lučić ist ein Ausnahmekünstler und er interpretierte gerade an der MET den Scarpia in Puccinis Tosca. Sein Rigoletto hat Kultstatus. Viele kamen und waren wie immer sehr angetan und berührt. Nicht minder überzeugte das übrige, sehr gut agierendeund singende Ensemble. Ioan Hotea als verführerischer Herzog von Mantua, der mit aufgerissenem Hemd-so verlangt es die Inszenierung mehr drauf hat als protziges, übertriebenes Balzgehabe tönte mit herrlichstem Tenorimpetus. Der düster funkelnde Sparafucile von Young Doo Park, die deftig Liebende Maddalena (Silvia Hauer) und der Fluch speiende Graf Monterone von Mikhail Biryukov waren eine große Freude. Marullo Christopher Bolduc. Die respektabel wohlklingende gute Chorarbeit von Albert Horne ließen keine Wünsche offen.
Viva Verdi!
At the International May Festival in Wiesbaden 2023, Anna Netrebko caused a sensation with her role debut as „Abigaille“ in Verdi’s „Nabucco“. The motto of the festival was „Fly, Thought, on Golden Wings“ and was dedicated to Intendant Uwe Erich Laufenberg. The opera tells the story of the biblical conqueror Nabucco, who subjugates the Hebrews and eventually finds his way to the Israeli faith. Netrebko shone with her enormous talent, shaping the role with opulent depth and powerful top notes. The charismatic baritone Željko Lučić impressed as Nabucco with his expressive singing. The production was semi-staged-concertante and was set up by Silvia Gatto. The ensemble, the glamorous chorus and the excellent Hessian State Orchestra Wiesbaden under the direction of conductor Michael Güttler provided a sound-intensive spectacle.
Verdi’s „Rigoletto“ was also performed, with Željko Lučić in the title role. Uwe Eric Laufenberg’s 2019 production was striking and characterised by a male world dominated by sex. Despite the disappointing staging, the first-class performers, including Anastasiya Taratorkina as Gilda and Ioan Hotea as the Duke of Mantua, were inspiring. The superbly playing Hessisches Staatsorchester Wiesbaden under the baton of conductor Will Humburg completed the successful performance. Overall, the International May Festival in Wiesbaden 2023 was a great success and was accompanied by a standing ovation.
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