Rezension von Ingobert Waltenberger.
„Ein Zwerg verschwindet und statt eines Riesen kommt ein Künstler zu sich“. So beschreibt Hagedorn die durch seine Liebe zu Helene Nahowski (Tochter der Anna Nahowski und des Kaisers Franz Joseph) ausgelöste Sturzgeburt der revolutionären Klanggebilde des Alban Bergs, in Harmonie wie absichtslos über Mahler und Strauss hinaus. „Das war der Tag der weißen Chrysanthemen“. Ein sehr persönlich koloriertes Buch ist es geworden, diese im Aufbruch, Durchbruch und Ausbruch in die Moderne geschilderte Erzählung der Kunst in den Metropolen Wien, Paris, Berlin und London ab der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Der Kunst gilt’s und sonst nichts. Wenn da nicht die vielen politischen Begebenheiten, Liebesabenteuer und ehrgeizigen Anläufe des Romanhelden Claude Debussy, unserer unerschrockenen Ethel Smyth und all der anderen im Buch genannten Akteure wären.
Hagedorn schildert die große Epoche, von ihm frei nach Schrekers Oper „Flammen“ tituliert, anhand der Lebensentwürfe von Claude Debussy, vor allem der Entstehung und Rezeption der Oper „Pellas et Mélisande“, und der britischen Komponistin und Frauenrechtlerin Ethel Smyth. In der Oper „Der Wald“ lässt sie Jolanthe den begehrten Heinrich vor die Wahl stellen, entweder „mit ihr die Wonnen der Lust zu erleben oder zu sterben.“
Es ist die Zeit der Märchenopern, Antonin Dvoraks „Rusalka“, Siegfried Wagners „Der Bärenhäuter“ oder Hans Pfitzners „Rose vom Liebesgarten“, wo Siegnot Minneleide liebt und diese Feenkönigin erst nach dem Tod und der Wiederauferstehung des Geliebten mit ihm glücklich werden soll. Es ist die Zeit der gefährlichen Frauen, unberechenbar und furchterregend wie Oscar Wildes „Salome“. Es ist die Stunde der femme enfant, „halb kindliches Zwischenwesen, sich der Tabus nicht bewusst“, der femme fragile, der „hilflos gehorsamen Ehefrau“ und der femme fatale, die „Männer ins Fallen bringt und dafür mit dem Tod bestraft wird“. Auch in Ethel Smyths Oper ist kein Jüngling vor der Lust Jolanthes sicher. Privat steht Ethel ihrem Librettisten Henry Brewster nahe, eigentlich aber gilt ihre Leidenschaft den Frauen.
Hagedorn hat das geschickt angestellt, die gewaltigen Änderungen in Gesellschaft, technischem Fortschritt und Kultur des angehenden 20. Jahrhunderts in das private und künstlerische Spannungsfeld dieser zwei Pole Debussy und Smyth zu betten. Das Buch mäandert zwischen einer gut recherchierten Sachebene und einem kurzweilig zu lesenden Roman, wo auch viel Klatsch und Tratsch nicht fehlt. Unsere Götter Strauss und Debussy bzw. die heute nicht mehr so hell strahlenden Sterne von damals werden in all ihren Erfolgen und Misserfolgen, in ihren Eitelkeiten und kämpferischen Attitüden sehr menschlich unter die Lupe genommen. Hagedorn gelingen plastisch und bunte Porträts aus Fleisch und Blut. Mahler, Freud, Webern, Maeterlinck, von Mildenburg, Schnitzler, Wilhelm II., Smaragde Berg, Laloy. Fast meint der Leser, einen Film ablaufen zu sehen, so anschaulich und lebendig geraten diese in brillanten Dialogen, dichten atmosphärischen Schilderungen und sehr persönlichen Blickwinkeln aufgelösten Vignetten auf die Zeit- und Kunstgeschichte.
Was sich etwa während der öffentlichen Generalprobe am 28. April 1902 zu „Pelleas et Mélisande“ in Paris zugetragen hat, davon können wir uns heute gar keine Vorstellung mehr machen. 63 Proben sind dem Ereignis vorangegangen. Mary Garden ist die erste Melisande. Vor dem Eingang zum Theater wird ein parodistisches Programm mit dem Titel „Pédéraste et Médisante“ verkauft, drinnen beginnen ab dem dritten Akt, besonders nach der Szene zwischen Golaud und Yniold, Tumulte mit Geheul, Pfiffen, Gelächter und „Petit-père“ Rufen. Aber Hagedorn weiß auch den Umschwung im Publikum bei der Premiere, ausgehend vom bataillon sacré auf dem dritten Rang, spannend zu erzählen.
In Wien wiederum ist es die „Salome“ von Richard Strauss, die von der Zensur gezwickt und gezwackt wird. Daher musste die Wiener Erstaufführung am 15. Mai 1907 im Deutschen Volkstheater als Gastspiel aus Breslau stattfinden. Die damalige Salome Fanchette Verhunk soll „lüstern, wild, grausam, bacchantisch, immer hysterisch und gesanglich ganz bedeutend in der Schlussszene gewachsen sein.“ Kein Wunder, dass diese Oper fast einen Monat lang vor ausverkauftem Haus gespielt wurde. In diesem Wien der Freud’schen Libido liefern „die Armenviertel die Dirnen, mit denen etwa drei Viertel aller Bürgersöhne ihre ersten sexuellen Erfahrungen machen.“ Die Prostitution ist nach Schnitzler „das dunkle Kellergewölbe, über dem sich mit makellos blendender Fassade der Prunkbau der bürgerlichen Gesellschaft“ erhebt.
Hagedorn flicht in seine rasante Erzählung unzählige Details, er malt mit pastosen Strichen ein großes Sozial- und Sittengemälde der Zeit am Abgrund des ersten Weltkrieges. Da werden den dunkelroten Waggons der South Eastern & Chatham Railways erster Klasse die Tausenden Londoner Obdachlosen gegenübergestellt, „zerlumpte Männer, barfüßige Kinder, Frauen in verschossenen grünen Trauerkleidern, sie sich bei Leichenbegängnissen eine Münze dazu verdienen.“
Was macht Ethel Smyth dazwischen? Sie versucht, via Mahler und Bruno Walter ihre Oper „Wreckers“ auch in Wien unterzubringen. Der britische Botschafter, mit Pauline von Metternich verheiratet, wird eingeschaltet, um den neuen sturen Hofoperndirektor Felix Weingärtner umzustimmen. Es wird trotzdem nichts daraus. In Paris wird sie mit ihrem „raffinierten Kosmopolitismus“ besser verstanden. Die andere Seite dieser schillernden Person: Zur Durchsetzung des Frauenwahlrechts wirft sie schon mal Fensterscheiben ein.
Am Traunsee malt Richard Gerstl Zemlinsky, dann die Familie Schönberg. Arnold und Mathilde nehmen Unterricht in Malerei bei dem jungen verschlossenen Studenten, der van Gogh verehrt. Schönberg arbeitet 1908 an seinem zweiten Streichquartett, als sich Mathilde und Richard näher kommen. Schönberg erwischt sie am 26. August in flagranti, die Ehe ist zu Ende. Die lange Zeit als gesetzt geltende Erklärung, dass Schönberg unter den Gewicht der Untreue die Tonalität zerbrach, stellt sich nach den Erkenntnissen von Raymond Charles Coffer als blanker Unsinn heraus. Das zweite Streichquartett war schon vor dem 26. August fertig. Vielmehr kommt Coffer zu dem Schluss, dass Gerstl Schönberg zu dieser epochalen Entwicklung angespornt haben könnte. „Vielleicht kann man sagen, dass Bedingungen, die Durchbrüchen in der Kunst günstig sind, auch Ehebrüche inspirieren – aufs gesellschaftliche Ganze gesehen ebenso wie auf die intime Kolonie am Traunsee.“ folgert Hagedorn. Traurige Schluss der ganzen Ehekrise ist, dass sich Richard Gerstl, gerade einmal 25-jährig, das Leben nimmt.
Der Streit um die Kompositionen Schönbergs sind ein gefundenes Fressen für den antisemitischen Teil der Wiener Presse. Auch der liberale Kritiker Julius Korngold konstatierte: „So etwas dürfe man zwar komponieren, aber nicht aufführen.“ Die „Drachensaat“ der jungen Schönbergianer hält bei der Aufführung des zweiten Streichquartetts mit Marie Gutheil-Schoder als Solistin dagegen. Dennoch folgt ein Pressesturm, den es vorher in der Musikgeschichte so noch nicht gegeben haben dürfte.
Hagedorn lässt uns mit Freud und Mahler in der Stadt Leiden spazieren gehen und eine Probe mit Kinderchor, Solisten und Orchester der achten Symphonie in München am 8. September 1910 miterleben. Mahler will, dass das Orchester an einer Stelle wie eine „große Gitarre“ spielen soll, die hohen Stimmen im „Chor der seligen Knaben“ animiert er dazu, „wie ein Messer in weiche Butter zu sinken.“
Die H.M.S. Dreadnought ist das größte und modernste Kriegsschiff der Welt, die britische Antwort auf den deutschen Flottenehrgeiz. Bertha von Suttner schreibt darüber „Jedes Land war ein bewaffnetes Lager, was immer der menschliche Geist auf technischem Gebiete erfand, wurde in den Dienst der Massentötung gestellt.“ Auch mit abergläubischem Unsinn hatte man es damals schon zu tun: Mehr als der Rüstungswettlauf irritierte die Leute ein Komet, der 22 Millionen Kilometer von der Erde entfernt seine Bahnen zog. Die Leute schluckten Pillen und kauften Gasmasken, weil sich im Schweif des Himmelskörper Giftgas befunden haben soll.
„Flammen“ sind in acht große Kapitel unterteilt. Kurze Szenen wechseln einander ab und springen von Ort zu Ort, von Protagonisten zu Protagonisten. Edward Elgar und Fritz Kreisler spielen ein Violinkonzert, Ethel Smyth wird verhaftet, Debussy und Stravinsky hämmern vierhändig den „Sacre du Printemps“ am Klavier. Debussy hat eine Ehekrise und keine Lust auf Moskau. Ab 1914 dominiert der Krieg das Buch. Neue Namen pflügen in unsere Wahrnehmung: der Verleger Emil Hertzka, Thomas Beecham, Jean Cocteau, Pierre Monteux, Serge Kussewitzki, Nikolai Roslawez. „Flammen“ endet mit dem Tod der zwölfjährigen entzückenden Chouchou, Emma-Claude Debussy. Sie stirbt am 16. Juli 1919 an einer schlecht behandelten Diphtherie.
Es wird nicht viel Neues erzählt, aber Volker Hagedorns europäische Musikerzählung ist aus dem speziellen Blickwinkel dieses Musikers heraus eine fabulierfreudige Sache geworden. Die vielen Namen und Fakten strecken den Leser nicht akademisch trocken nieder. Sie bilden in der besonderen Klammer um das Leben Claude Debussys und Ethel Smyths eine eigene, die subjektive Befindlichkeit der wenig göttlichen Künstlerinnen und Künstler wortreich ausmalende Geschichte. Das Buch thematisiert zudem das Verhalten von Künstlern in einem großen Krieg, ein Thema, das uns in allen Facetten gerade viel beschäftigt.
„Flammen“ ist ein page turner für alle, die an den kleinen Anekdoten des Lebens genau so Gefallen finden können wie an den vulkanischen (musik-)historischen Umbrüchen der Zeit. Vielleicht werden es einige als zu geschwätzig empfinden, mir hat es jedenfalls diese Epoche noch einmal faktenreich und überaus spannend näher gebracht.
Volker Hagedorn
Flammen – Eine europäische Musikerzählung 1900 – 1918.
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