Noch lange nicht in der “Babylon Berlin” Falle – der beste Roman der Serie. Rezension von Ingobert Waltenberger.
Friedrich Thormann: „Heil Hitler Sanitätsrat, ein Notfall in Speisesaal zwölf, bitte kommen Sie schnell!“ Dr. Hilmar Schmidt „Heil Hitler, mein Junge. Nu mal langsam mit den jungen Pferden. Was ist denn passiert?“
Walter Morgan, Amerikaner, im Vorstand der Amateur Athletic Union und Mitglied der US-Olympia Delegation stirbt in einer dramatischen Szene im Speisesaal des Olympischen Dorfes. Im Magen findet man neben Rindfleisch, Kartoffeln und Gemüse Digitalis. Offiziell attestiert der Arzt Herzversagen. Nichts wäre den Nazis unangenehmer als jetzt während der gigantischen Propagandamaschinerie namens Olympische Spiele einen politischen Mord verantworten zu müssen, der alles sabotieren könnte. Niemand darf von irgend etwas erfahren, das die heile Welt der Spiele stören könnte. Der Verdacht, dass die Untat von Kommunisten ausgeht, deren Widerstand doch angeblich gebrochen war, muss dringend untersucht werden.
Also wird unser LKA-Mann, Kriminaloberkommissar Gereon Rath, notgedrungen inoffizieller Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes vom Himmlers SS und mit den versteckten Ermittlungen betraut. Erpressbar wegen Tonaufzeichnungen mit politisch unverzeihlichen und ergo tödlichen Worten, die versteckt in Raths Wohnung aufgenommen wurden, gerät Rath in die Fänge des Obersturmbannführers Sebastian Tornow. Ein Gangster aus früheren Tagen, den der politische Umsturz nach oben gespült hatte und nun als Raths geheimer Chef die Untersuchungen lenkt. Es gilt, die Hintergründe des Giftmords aufzuklären und ohne Aufsehen der Schuldigen habhaft zu werden, bevor sie noch einmal zuschlagen können…
Den sich als Nebenschauplatz erweisenden Tod von Walter Morgan klärt die Privatdetektivin und Ehefrau von Gereon, Lotte alias Charly Rath, auf. Die Anstiftung zum Mord stand schwarz auf weiß in einem von den sozialistischen Gewerkschaftlern der Morgan Canning Company an die deutsche Apothekenhelferin Marie Niemann gerichteten Schreiben zu lesen. Freilich hat den Brief die skrupellose Ehefrau Morgans mit dem hübschen Vornamen “Olympia“ verfasst, um ihren Versagergatten loszuwerden.
Dann sind da aber noch vier weitere Leichen, allesamt Morde als Unfälle getarnt, deren Ursachen und Folgen neben den Fluchtplänen von Gereon und Charly in die Tschechoslowakei der Kern des Buches bilden. Und hier beginnen die Fäden plötzlich tief zurück in den siebten Rath-Roman “Marlow” zurück zu laufen. Die Rivalität zwischen dem Luftwaffenchef und Morphinisten Hermann Göring und dem von Reinhard Heydrich innerhalb der Heinrich Himmler unterstehenden Schutzstaffel geleiteten Sicherheitsdienst dient als Hintergrund für Spitzelei, kompromittierendes Material über Göring, einen abgründigen Blick in die Berliner Unterwelt und deren Verstrickungen mit obersten Repräsentanten des Staates, und ein spektakuläres Täuschungsmanöver Raths mit durchaus tödlichen Folgen.
Insoweit stellt sich der atmosphärisch dichte Roman “Olympia” als Fortsetzung von “Marlow” heraus, wo Todkranke als Mordwerkzeugen missbraucht werden. Volker Kutscher gelingt es nach einem langatmigen Start, mit einem scharfen Blick durchs Schlüsselloch auf Regime, Gefolgsleute und Gegner ein al fresco Gemälde des Jahres 1936 in Deutschland zu malen, aber damit durchaus heutige Leser zu bedienen. Gereon und Charly Rath, zunehmend in ihre eigenen Fallen aus Täuschungen und Ungeschicklichkeiten verstrickt, bleibt nichts anders als die Flucht aus Deutschland zu planen, um dem drohenden KZ zu entgehen Charly hatte mit ihrem Privatdetektei-Chef Böhm eine Art Fluchthelferagentur eingerichtet. Gereon selbst wird als unzuverlässiger eigentlicher Verursacher (dazu muss man den Roman “Marlow” kennen, wo Hermann Göring Johann Marlow und seinem Sohn Liang Kuen-Yao eine kugelreiche Falle gestellt hat) und Mitwisser der Details der Mordserie immer mehr zu einer Bedrohung für die SS. Die Zeiten, da Gereon Rath dem Staat und der Partei mehr nutzte als schadete, sind vorbei. Sein verkorkstes Leben auf der Jagd nach etwas, von dem er nicht einmal weiß, was es ist, gerät immer mehr auf die abgleitende Bahn.
Die Figuren des Gereon Rath und der Charly bleiben gerade deshalb, weil sie als so wild strampelnde und patscherte Antihelden im aussichtslosen Kampf gegen ein brutales Unrechtsregime konstruiert sind, greifbar. Gereon als kommunikationsunfähiger Einzelgänger Mr. Nobody, gefangen in eigenen Fesseln von Unzulänglichkeit und Erpressbarkeit, agiert auch zu Hause wie der Halbstarke auf der Maschine. Ohne Charly zu befragen, hat er quengelige amerikanische Olympiatouristen, die Millers, in seine Wohnung aufgenommen. Nein-Sagen gegenüber der Obrigkeit auch gegen seine intimsten privaten Interessen ist nicht seine Sache. Wofür steht dieser Rath? Für einen furchtlosen Helden und Widerstandskämpfer sicher nicht. Charly wiederum ist eindeutig eine Projektion der politischen Korrektheit der Jetztzeit. Mehr Realistin als Gereon und dennoch ihrer Linie treu, wird sie am Ende alleine zurückbleiben. Dass sie als einzige während der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele beim Horst Wessel Lied sitzen bleibt, klingt zwar sympathisch, ist aber aus dem Zeitverständnis heraus unglaubwürdig. Gelegentlich nervt die mit irrem Starrsinn und ihren spontan unüberlegten Aktionen, die sich als naiv und gefährlich für alle ihre Lieben erweisen.
Insgesamt gelingen Volker Kutscher überzeugende Porträts aus Fleisch und Blut. Eine Figur, mit der sich der Roman zu einem echten Sittenbild entwickelt, ist Fritze Thorman. Der waschechte Berliner Straßenjunge mit dem goldenen Herzen wird vom Ehepaar Rath adoptiert, dann wegen politischer Unzuverlässigkeit der beiden vom Jugendamt dem pädophilen Wilhelm Rademann zugesprochen. Als Jugendehrendienstler ist er Fan des amerikanischen Läufers Jesse Owens und des Hochspringers Dave Albritton. Am liebsten liest er den verpönten Erich Kästner, fühlt sich aber anfangs auch in der HJ pudelwohl und gut aufgehoben. Bis er zwei Morde im Olympischen Dorf miterleben muss und so selber Zielscheibe der Gestapo wird. Schließlich werden ihn Eifersucht, Neid und eine abscheuliche Intrige wieder aus der Bahn werfen.
Der immer dichter gestrickte, unausweichlich sich zuspitzende politische Plot kulminiert in einem Gartenfest beim Generaloberst Göring. Welche Rolle der US-Gangster und Heroinhändler Abraham Goldstein als Racheengel Marlows hier spielt und wie die Sache ausgeht, sei hier nicht verraten.
Der historische Kriminalroman “Olympia” mit einer Liebeserklärung an den Genius loci Berlin ist sicherlich lesenswert. Die Darstellung der Verknüpfung der damaligen kriminellen, politischen und wirtschaftlichen Interessen und Aktivitäten sind auch für den heutigen Leser hoch spannend. Was für die Netflix Serie “The Crown” gilt, gilt natürlich auch hier. “Olympia” das ist kein Geschichtsunterricht, sondern bloße Fiktion. Der zeitgeschichtliche Hintergrund bleibt auch ein solcher für unsere drei Hauptcharaktere, deren Schicksal eben deshalb rührt und uns was angeht, weil sie um ihre ganz individuelle Wahrheit und ihr innerstes Wesen kämpfen. Bedeute es, was es wolle, auch den Untergang.
“Und wie sagt der Berliner? Immer den Kopp hoch, und wenn der Hals noch schmutzig ist.”
Volker Kutscher
Olympia. Der achte Rath-Roman
Piper Verlag, München 2020
Buch kaufen oder nur hineinlesen
Bei Thalia kaufen
Bei Verwendung des Textes bitte Quelle angeben bzw. verlinken.