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Was wir lesen: Literatur im 21. Jahrhundert

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LiteraturZwei neue Bücher, die zum ersten Mal auf Deutsch erscheinen. Beide geschrieben von jungen Autoren. „Rote Kreuze“ von Sasha Filipenko, 1984 in Minsk geboren, und „Nach Mattias“ des 1983 in den Niederlanden geborenen Peter Zantingh. Anlass, einmal über Literatur im 21. Jahrhundert nachzudenken. Von Barbara Hoppe.


Sasha Filipenko lässt seinen jungen Helden von Sankt Petersburg nach Minsk ziehen. Ihn treibt ein persönliches Schicksal in die Stadt seiner Eltern. In dem Haus, in dem er eine Wohnung findet, trifft er auf Tatjana Alexejewna, eine 91-jährige alte Dame, die an Alzheimer erkrankt ist und ihrem neuen Nachbarn ihre Lebensgeschichte aufzwingt. Anfangs noch voller Abwehr, fängt dieser zunehmend Feuer an der Erzählung der alten Frau. Sie lässt nichts aus: Es geht um das Erwachsenwerden in einer Familie, die in ganz Europa zuhause ist, aber schließlich in Russland landet. Es geht um Freundschaft und Liebe, um Familiengründung und Zweiten Weltkrieg, um Stalinterror und Arbeitslager. Um es mit dem Klappentext zu sagen: „Von Stalin-Terror bis in die Gegenwart – ein großer russischer Roman auf nur 280 Seiten.“

Cover: Diogenes Verlag

Der zweite Roman ist in der Gegenwart angesiedelt. Mattias ist plötzlich und unerwartet gestorben. Was geschah, erfährt der Leser erst nach und nach. In einzelnen Kapiteln stellt uns Peter Zantingh acht Menschen vor, die den Toten kannten. Wie ein Puzzle soll sich so allmählich das Bild von Mattias zusammensetzen. Es ist „Ein Roman, der wachrüttelt und den Blick schärft für das, was wirklich von Bedeutung ist“. „Sensibel, klug und zutiefst menschlich – ein Roman für die Ewigkeit“, heißt es auf der Rückseite meines Leseexemplars.

Leicht und angenehm lesen sich diese beiden Romane. Auch wenn man sich bereits auf den ersten Seiten bei Peter Zantingh fragt, wo in Sätzen wie „Um zwanzig nach acht war ich wieder zu Hause. Sechzehn Kilometer, laut Satelliten. Es war noch dunkel. Ich holte mir einen runter und ging duschen“ die Ewigkeit und das, was wirklich von Bedeutung ist, liegt. Weitere Sätze dieser Art folgen. Die Ewigkeit muss ziemlich langweilig sein.
Sasha Filipenkos Titel hingegen hält den wunderbaren Doppelsinn der „Roten Kreuze“ bereit, die seine Tatjana an die Türen malt, um die eigene Wohnungstür wiederzufinden. Denn schließlich hatte sie, die mehrere Sprachen spricht, in Russland einst im Außenministerium gearbeitet und während des Kriegs reihenweise Schriftstücke vom Internationalen Roten Kreuz zum Austausch von Kriegsgefangenen übersetzt. Eine Tatsache, die Ausgangspunkt einer kaum zu ertragenden persönlichen Leidensgeschichte werden soll. Mit jedem russischen Namen – darunter auch der ihres Mannes – auf den Listen war auch das Schicksal derer Angehörigen besiegelt. Denn, so die Haltung der russischen Machthaber, man fiel im Kampf oder kehrte als Held heim. Aber man geriet nicht in Gefangenschaft.

Cover: Diogenes Verlag

Beide Autoren wurden nun erstmals ins Deutsche übersetzt. Sind sie sprachlich brillant? Im Stil unverwechselbar? Mit einem raffinierten Aufbau? Hochkomplex komponiert? Nein oder nur in Maßen. Stattdessen steht plötzlich ein wenig schmeichelhaftes Wort im Raum: gefällig.

Sasha Filipenko und Peter Zantingh schreiben gefällig. Nicht komplex, sondern leicht verdaulich. Als Leserin rauscht man über die Seiten, nie in Gefahr, sich zu stark konzentrieren zu müssen. Lernt man etwas hinzu? Ein bisschen über die harte Haltung der Russen ihren Kriegsgefangenen und deren Angehörigen gegenüber. Und über eine Gegenwart, in der es immer noch die ewig Gestrigen gibt. Aber das, was als großer Wurf auf nur 280 Seiten gelobt wird, wird dem komplexen Thema nicht gerecht. Im Galopp geht es durch die düstersten Kapitel russischer Geschichte im 20. Jahrhundert und die Untiefen persönlicher Erinnerungen, die besser keine wären, leichtfüßig erzählt von einer freundlichen alten Dame, die vergessen will, aber nicht kann und doch vergessen wird.

Peter Zantingh hingegen führt uns durch die unaufgeregten Leben von Allerweltsbürgern, die vielleicht für den einen oder anderen Identifikationspotenzial haben. Und darüber hinaus?

Es ist kein Phänomen, das nur diese beiden Autoren betrifft. Aber es setzt Überlegungen fort, die bereits im März 2019 auf der Leipziger Buchmesse von den Nordischen Botschaften angestoßen wurden. Es ging um „Literatur und Zukunft“ und „Die Zukunft des Lesens“. Ich war als Vertreterin der Online-Medienszene auf dem Podium und der Tenor der anderen war: Es wird noch viel gelesen, nur anders. Kürzere Texte. Oder in anderen Formen, z.B. durch den Einsatz von Medien und Bildern. Dabei verlieren wir allerdings etwas ganz Entscheidendes: Die Kulturtechnik Lesen. Aber auch das Schreiben, so scheint es, hat sich verändert. Nach meiner Lektüre diverser Jungautorinnen und Jungautoren, häufig als Romandebütanten, war ich oft verwundert, mitunter resigniert. Nicht nur glänzten viele Romane durch Sprunghaftigkeit und abgehackte Sprache, sondern auch die Kapitel wurden immer kürzer, wobei sich das Layout perfekt an diesen Stil anpasste. Alles also enorm bequem, um dem müden Hirn des aufmerksamkeitsschwachen und mit mangelnder Konzentration ausgestatteten Lesers gerecht zu werden. Die Ergebnisse der aktuellen PISA-Studie zeigen ja erneut, wie defizitär der Nachwuchs in Sachen Lesevermögen und -verständnis ist. Die Frage ist aber auch: Was wird uns noch geboten? Viel zu häufig komplexe Geschichte und Geschichten, hingeworfen auf knapp 300 kleinformatigen Seiten.

Es mag altmodisch klingen. Doch ist es nicht die Literatur, die es ermöglicht, in fremde Welten einzutauchen, fremde Lebensformen kennenzulernen, Historie erfahrbar zu machen? Ist es nicht die intensive Romanlektüre, die uns mitleiden, mitweinen oder mitlachen lässt? Ist es nicht sie, die unseren sprachlichen Reichtum spiegelt? Die uns die Komplexität der Welt vor Augen führt und uns lehrt, sie zu begreifen? Wir dürfen nicht in den Fehler verfallen, die Annehmlichkeiten des Internets mit seinen kurzen Texten, seiner schnellen Informationsbeschaffung und seinen Übertragungsmöglichkeiten in die Literatur zu transportieren. Dort, wo der Geist noch fliegen kann und die Fantasie noch Raum hat, wo neue oder fremde Welten ein Zuhause finden und der Lesende seinen Horizont erweitert, sollten wir uns Zeit nehmen.

Denn dass es einen Weg gibt, zeigten im letzten Jahr ganz unterschiedliche Autoren wie Jewgeni Wodolaskin, Goliarda Sapienza, Peter Stamm, Marius Hulpe, Karin Ernst oder Gérard Salem. Sie bestachen durch Epik oder lyrische Sprache, durch eindringliche Schlichtheit, differenzierte Betrachtung oder außergewöhnliche Komposition. Ja, selbst die unterhaltsamen Schmunzelkrimis konnten sich mit Humor und/oder Spannung ein Alleinstellungsmerkmal erarbeiten. Was nicht heißen muss, sich in epischer Länge zu verlieren. Auch eine verdichtete, kurze Sprache kann Tiefe schaffen. Und dennoch: Dostojewski feiert im nächsten Jahr seinen 200. Geburtstag, Tolstoi starb vor 110 Jahren. Man darf vermuten, dass ihre Mammutwerke heute in deutschen Lektoraten kaum noch eine Chance hätten.

Sasha Filipenko
Rote Kreuze
Diogenes Verlag, Zürich 2020
Buch kaufen oder nur hineinlesen
Bei Thalia kaufen oder für den Tolino

Peter Zantingh
Nach Mattias
Diogenes Verlag, Zürich 2020
Buch kaufen oder nur hineinlesen
Bei Thalia kaufen oder für den Tolino

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