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Yukio Mishima: „Der Held der See“ neu übersetzt

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Literatur

Der Roman um Verrat und Mord des japanischen Schriftstellers Yukio Mishima faszinierte Generationen von Lesern und Künstlern, Komponisten und Regisseuren. Nun hat Ursula Gräfe im Kein & Aber Verlag eine deutsche Neuübersetzung des Klassikers vorgelegt. Von Stephan Reimertz

Es gehört zu den vielfachen Ironien dieses genialen 1963 erschienen Romans, dass sein Held, der Seemann Ryuji, alles andere als ein Held ist. Nur in den Augen des halbwüchsigen Noboru und seiner Freunde scheint der weitgereiste Matrose einer zu sein; allein auch dies nur am Anfang. In dem Moment, da sich der vermeintliche Abenteurer für die Ehe mit Noborus konsumorientierter Mutter Fusako und das Leben an Land und im Komfort der Zivilisation entscheidet, hat er bei den Jungs ausgespielt. Der Verräter muss weg. Wir haben es hier also mit einem variierten Ödipus-Motiv zu tun. Dass ein Sohn den Mann seiner Mutter tötet, ist nichts Neues. Originell freilich ist Noborus Begründung: Sterben muss Ryuji, weil er das Abenteuer, die See, verraten hat. Aber man beachte den Gleichklang von mer und mère!

Spiegelungen der Begierde

Es gibt kaum einen Roman, der die erotisches Faszination eines Halbwüchsigen an seiner Mutter so schwelgerisch schildert. Allein man müsste mit Blindheit geschlagen sein, wenn man nicht auch merkte, wie der pubertäre Noboru den als männliches Modellideal geschilderten Matrosen begehrt. Wir haben es also mit einer vielfach gebrochenen und gespiegelten Motivlage zu tun, und es zählt zu den kennzeichnenden Fähigkeiten Mishimas als Autor, dass er komplexe Beziehungen der Figuren untereinander mit der Einfachheit und Eindringlichkeit einer japanischen Tuschzeichnung vor uns hinstellt. Er gehört zu den Schriftstellern, die den Leser mit möglichst genauen und unumwundenen Worten in ambivalente und vielfach deutbare Situationen führen können.

Das Spiel der Übersetzer

Mishimas Roman besteht lediglich aus zwei Teilen und besticht durch eine Knappheit, die das vielfach interpretierte und kommentierte Werk der Novelle annähert. Mishimas amerikanischer Übersetzer John Nathan betont, dass nur wenige Nachdichter den stylistic footprint eines Autors zu übertragen vermögen. Im Idealfall müsste der Übersetzer seine Sprache mit derselben Meisterschaft bezwingen wie der Autor die seine, und dies sei kaum je der Fall. Der Originaltitel Go no eiko (Schleppen am Nachmittag) lehnt sich an ein unübersetzbares japanisches Wortspiel an. Mishima soll den Titel der englischen Übersetzung, The Sailor who fell from Grace with the Sea, selbst kreiert haben. Für seine Opernfassung von 1990 wählte Hans Werner Henze den Titel Das verratene Meer.

Wie bereits Sachiko Yatsushiro, der das Buch 1970 unter dem Titel Der Seemann, der die See verriet ins Deutsche übersetzte, kommt auch die Neuübersetzerin Ursula Gräfe, die im Kein & Aber Verlag bereits Mishimas Goldenen Pavillon übertragen hat, nach eigenem Bekenntnis immer wieder an »die Grenzen der Übertragbarkeit«. Wer mehrere Übersetzungen liest, nähert sich dem Original wenigstens ein Stück an

John Nathan:
“On those nights, standing in the white pilothouse amid a clutter of instruments and bronze signal belts, Ryuji was more convinced then ever:
          There must be a special destiny in store form e; a glittering, special-order kind no ordinary man would be permitted.

Ursula Gräfe:
»Wenn er in solchen Nächten auf der weißen Brücke stand, umgeben von Ruder, Radar, Funkgerät, Magnetkompass und der Schiffsglocke aus Messing an der Decke, glaubte er fest an seine besondere Bestimmung. Glaubte, ihn erwarte ein eigens für ihn geschaffenes glanzvolles Schicksal, wie es keinem gewöhnlichen Menschen vergönnt war.«

Das Japanische lässt also für den Übersetzer große Interpretationsspielräume. Was wir in dieser Passage, bei aller verschiedenen Herangehensweise der beiden Übersetzer, sehen können, ist allerdings auch die Nähe zum Künstlertum, in die Mishima das Heldentum rückt. Ja, man kann sagen, Künstlertum, Heldentum und Männlichkeit werden in eins gesetzt, darum ist dieses Buch auch ein Künstlerroman.

John Nathan:
Those men have thrown opportunity away – there’s no hope for them any more. I’ve never done much, but I’ve lived my whole life thinking of myself as the only real man.«

Ursula Gräfe:
»Diese Männer haben ihre Chance verpasst, ihr Leben weggeworfen. Ich dagegen habe mich schon mein ganzen Leben lang für den einzigen richtigen Mann auf der Welt gehalten.«

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Cover: Kein und Aber Verlag

Der Matrose als Mythos

Allein Mishima geht noch einen Schritt weiter und erhebt den Matrosen zugleich zum Symbol archaischer Kreatürlichkeit, wie aus dem faszinierten Ausruf des halbwüchsigen Noboru hervorgeht. Der strotzt hier von doppelter Eifersucht, denn er will zugleich von seiner Mutter und von dem Seemann begehrt werden:

John Nathan:
“’That sailor is terrific! He’s like a fantastic beast that’s just come out of the sea all dripping wet. Last night I watched him go to bed with my mother.’”

Ursula Gräfe:
»„Der Typ ist fabelhaft. Wie ein geheimnisvolles Tier, das gerade triefend nass aus dem Meer gesprungen ist. Gestern war er mit meiner Mutter im Bett, und ich habe zugeschaut.“«

Größere Geschlossenheit des Textes als bei John Nathan bevorzugt Ursula Gräfe auch bei den wenigen Versen des Buches:

John Nathan:
“’The whistle wails and streamers tear,
Our ship slips away from their pier.
Now the sea’s my home, I decided that.
But even I must shed a tear
          As I wave, boys, as I wave so sad.
          As the harbor town where my heart was glad.’”

Ursula Gräfe:
»Das Horn ertönt, die bunten Bänder reißen,
wenn mein Schiff legt ab vom Pier.
Seemann bin ich, Seemann will ich heißen,
eine Träne im Aug’ lass ich den Hafen hinter mir«

Eleganz der Edition

Die in Einzelbänden von schlichter Eleganz herausgegebenen inzwischen vier Romane Mishimas im Kein & Aber Verlag, darunter der vielschichtige Roman  Der Goldene Pavillon und zuletzt die Satire Leben zu verkaufen, in den Übersetzungen von Nora Bierich und Ursula Gräfe stellen eine großartige editorische Tat dar. Jeder, der etwas wert ist, ist umstritten. Das galt für Mishima schon zu Lebzeiten im eigenen Land. Er gehörte freilich zu einer zutiefst traumatisierten Generation. Die Japaner hatten zwei Angriffe mit der Atombombe und, noch grundstürzender, den Verzicht des Kaisers auf seine Gottgleichheit erdulden müssen.

Synästhet im Grenzbereich

Yukio Mishima ist ein Autor, der alles mit geradezu psychedelischer Intensität wahrnimmt. Die Eindrücke drängen sich ihm schmerzhaft auf. Er ist zudem Synästhetiker, der Töne in einer bestimmten Farbe sieht und Farben hören kann. Er ist der typische Hochbegabte. Es könnte eine Borderline- oder bipolare  Problematik bestehen, allein Ferndiagnosen sind nicht möglich. Die Sinnlichkeit und ästhetische Empfindsamkeit seiner Beschreibungen lesen sich, als hätte man es mit Malerei zu tun. Zudem verfügt dieser Autor über das gesamte philosophische und Ausdrucksarsenal der europäischen klassischen Moderne. Beschämenderweise kennen die japanischen Schriftsteller die europäische Kultur sehr viel besser als wir die japanische. Auch scheinen die Schriftsteller in Asien viel mehr von ihrer bildenden Kunst zu profitieren als wir von der unseren.

Yukio Mishima
Der Held der See
Kein und Aber Verlag, Zürich 2024
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Yukio Mishima’s novel “The Sailor Who Fell from Grace with the Sea” depicts betrayal, longing, and violence with the clarity of a Japanese ink drawing. Sailor Ryuji initially appears heroic to young Noboru, but loses his allure when he chooses domestic life with Noboru’s mother. Noboru’s reaction—a distorted Oedipal vengeance—is fueled by a sense of betrayal against the sea itself.

Ursula Gräfe’s new German translation, published by Kein & Aber, captures Mishima’s intensity with careful nuance, while acknowledging linguistic limits. One scene shows Ryuji “like a mysterious beast dripping from the sea,” reflecting Noboru’s dual desire—for his mother and a masculine ideal.

Formally tight like a novella, the book balances erotic tension and philosophical reflection. Mishima’s style is sensory-rich, near painterly; his synesthesia shapes scenes with vivid intensity. This edition joins other elegant German Mishima translations and reflects on Japan’s postwar trauma and cultural upheaval.

1 Gedanke zu „Yukio Mishima: „Der Held der See“ neu übersetzt“

  1. Danke für die hervorragenden analyse, und Übersetzung vergleich! Was oft bei Mishima vergessen wird ist sein Minderwerkeitkeitskomplex (auch als japaner war er ziemlich klein)

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