Von Ingobert Waltenberger.
Die 31. Edition französischer Opern der venezianischen Stiftung Bru Zane gilt der vergessenen opéra comique „Phryné“ von Saint-Saëns. Das 1893 aus der Taufe gehobene Werk ist nach „Les Barbares“, „Proserpine“, „Le Timbre d‘argent“, „La princesse jaune“ die fünfte Oper von Saint-Saëns in dieser Reihe, der nun in einer exquisiten Besetzung und musikalisch überzeugend – zumindest auf Tonträgern – nach 70 Jahren Pause wieder gelauscht werden kann.
Noch immer ist es ein Rätsel, aus welchen unentwirrbaren Knäueln an Gründen manche Opern von der Bildfläche und den Spielplänen verschwinden, andere hingegen – vor allem solche, wo die Melodien einfach nachzupfeifen sind – nicht. Rein künstlerische Argumente sind es meist nicht. Fakt ist, dass es nach dem ersten Weltkrieg besonders der Kunstform opéra comique als ,überkommen‘ an den Kragen ging, auch wenn das eine oder andere Stück sich vorher dauerhaft auch international etablieren konnte, wie dies bei der vom Komponisten, aber auch von Gounod überaus geschätzten „Phryné“ der Fall war. Immerhin gab es von „Phryné“ Übersetzungen in die italienische und in die deutsche Sprache. Premieren fanden u.a. unter anderem in Brüssel, Monte Carlo, Mailand, Genf, ja sogar in Algier und in Kairo statt.
Warum also dieses so brutale Verdikt der Musikgeschichte? Das mag daran gelegen haben, dass diese hybride Kunstform aus Sprechtheater und Oper es weder den reinen Theaterbesuchern noch den eingefleischten Melomanen leicht macht. Noch dazu sind die gesprochenen Dialoge heikel umzusetzen. Daher hat André Messager 1896 die zudem für die vorliegende Aufnahme relevante Version mit verkomponierten Sprechtexten erstellt, eine Operation, der vorher schon „Carmen“, „Mignon“ oder „Lakmé“ unterzogen wurde.
Generell fasziniert von der Antike – Saint-Saëns war durch und durch durchdrungen von römischer und griechischer Geschichte und Archäologie und schrieb sogar einen Aufsatz „sur les décors de théâtre dans l‘antiquité romaine“ – entstand „Phryné“ genau zu der Zeit, als sich der Komponist vertieft mit den antiken Opernschöpfungen eines Rameau oder Gluck befasste.
Als Gemälde von Jean-León Gérôme ist „Phryné devant l‘aéropage“ berühmt. Es zeigt den Moment, wo die legendäre griechische Kurtisane Phryné, die sich schöner als Venus zu sein rühmte, vor dem Gericht erscheint. Sie wurde freigesprochen, nachdem ihr Verteidiger ihr vor den Richtern das Kleid wegriss und die Nacktheit sprechen ließ. Das Gemälde ist heute im Bestand der Kunsthalle Hamburg.
Saint-Saëns ist es bewundernswert gelungen, aus diesem bekannten erotischen Tableau heraus eine Komödie zu entwickeln, in die Familien mit ihren Töchtern auf Bräutigamschau gehen konnten, ohne rot anzulaufen. Prompt wurde hingegen dem Librettisten Lucien Augé de Lassus vorgeworfen, beim Sujet geschwindelt zu haben. Die diskrete Parodie mischt sich jedoch final gut mit den musikalischen Nummern, die im Sinne eines schrulligen Neoklassizismus, eines französisierten Italienertums, an die 1820er-Jahre angelehnt sind. In diesem Sinne ist „Phryné“ als ein sanft die Nerven kitzelndes Vehikel für das Bildungsbürgertum das Gegenteil des derb-frechen Humors eines Chabrier oder Offenbach. Vielleicht hat gerade dieser „trockene“ Humor des Stücks in Kombination mit dem national bekannten Tafelbild das Publikum damals begeistert.
Wir können heute, ohne uns die historischen Umstände aneignen zu müssen, die so raffinierte Kunst der Instrumentierung, den genießerischen musikalischen Fluss, die Anmut der Couplets, die feine Gesellschaftssatire dieser romantischen Operette bewundern.
Die Handlung spielt in Athen. Auf einem Platz vor dem Haus der Phryné (Florie Valiquette) wird gerade die Statue des eitlen Archonten Dicéphile (Thomas Dolié) enthüllt. Dieses hohen Beamten exzessiver und verschwenderischer Neffe Nicias (Cyril Dubois) ist in Phryné verliebt. Weil er logischerweise schwer verschuldet ist und keine größere Lust auf eine Gefängniszelle hat, bittet er seinen Onkel, ihm 12.000 Drachmen zu geben. Der Onkel predigt ihm aber nichts als Enthaltsamkeit und Sparsamkeit. Bevor sich der junge Heißsporn vor den Schergen in das Haus der Phryné flüchtet, verunstaltet er noch rasch die frisch enthüllte Statue seines Onkels.
Der zweite Akt führt uns in das Haus der Phryné. Nach dem obligaten Liebesduett von Phryné und Nicias bittet die Dienerin Lampito (Anaïs Constans) den wütenden Dicéphile herein. Der tappt natürlich prompt in die schlüpfrige Falle, die die Schöne dem Alten stellt. Sie bittet ihm, beim Ankleiden zu helfen, wobei sie sich vor ihm auszieht. Der johannestriebige Onkel vergeht vor Erregung auf dem Boden vor der lasziv auf dem Sofa hingefläzten Frau. Phrynés frivoler Plan geht auf. Auf ihr Zeichen hin erscheinen Nicias und die gesamte Dienerschaft. So unehrenhaft auf der falschen Zehe erwischt, verspricht der alte Geizhals dem Neffen die Hälfe seines Vermögens. Das Volk schließlich akklamiert den Archonten weniger für seine Tugend als für seine plötzliche Milde. Vorhang.
Stilistisch ist wie bei allen Produktionen der Stiftung Bru Zane alles bestens bedacht. Bei der Wahl der Besetzungen wird streng darauf geachtet, dass alle Sängerinnen und Sänger mit dem französischen Idiom perfekt vertraut sind: Das bedeutet eine Beherrschung des rollenden R, ein sparsames Vibrato, schlanke Tongebung, Verzicht auf Unsitten aus der italienischen Oper wie übermäßige Portamenti, kein exzessives Abdunkeln der Vokale i, é und u. Es kommt vielmehr auf Tempo, Sprachwitz, Zungenfertigkeit und die Mikrofon-Tauglichkeit der Stimmen an. Auch der vorzügliche Coeur du Concert Spirituel liefert eine mustergültige Leistung ab. Das Orchestre de l‘Opéra de Rouen Normandie unter der agogisch bewegten und fein gesteuerten Leitung durch Hervé Niquet betont den hochromantischen Gestus der Musik mit ihren reich blühenden Harmonien und den so trefflich eingestreuten Instrumentalsoli.
Genuss garantiert, die etwas über einstündige Oper zergeht auf der Zunge wie das fruchtige Karamell einer saftigen Tarte Tatin.
Camille Saint-Saëns
Phryné
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Orchestre de l´Opéra de Rouen Normandie | Hervé Niquet
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