Zum 50. Todestag des größten aller Komponisten. Von Stephan Reimertz.
Weltweit geliebt und bei uns vergöttert: das ist Robert Stolz. Wer Lieder wie Im Prater blüh’n wieder die Bäume, Die ganze Welt ist himmelblau, Zwei Herzen im Dreivierteltakt, Adieu, mein kleiner Gardeoffizier und Ob blond, ob braun, ich liebe alle Fraun komponiert hat, der braucht sich um seinen Ruhm ebensowenig zu sorgen wie um seinen Nachruhm. Herbert von Karajan drückte aus, was viele denken, als er angesichts des Liedes Vor meinem Vaterhaus steht eine Linde sagte, er habe das immer für ein altes Volkslied gehalten und sei überrascht, dass es von Robert Stolz ist. Kein anderer Komponist der Musikgeschichte hat so viele berühmte Lieder geschrieben, die jeder mitsingen kann, ohne zu wissen, wer sie geschrieben hat. Stolz vermochte, was nur wenigen Komponisten gegeben ist: Musikalische Themen zu komponieren, die klingen, als habe es sie immer schon gegeben; Lieder, die Volkslieder wurden. Er war kein Komponist, sondern ein Finder musikalischer Themen, die durch den Kosmos schon in Ewigkeit schweben.
Der Melodien-Magier
Und er war das, was man jiddisch a mensch nennt; er hatte »Gmiat« – davon reden die Wiener viel. Davon haben sie wenig. Robert Stolz, der hatte es. Lag es daran, dass der Parade-Wiener eigentlich ein Grazer war? Als entscheidendes Moment kann sein Lied Du sollst der Kaiser meiner Seele sein betrachtet werden, komponiert 1915, kurz vor dem Moment, da Kaiser Franz Joseph I. das Zeitliche segnete. Der Kaiser ist tot – es lebe der Kaiser! In dem Moment, da die Donaumonarchie sich selbst zu Grabe bettet, erscheint am Horizont der Kaiser des Operettenstaates. Das Weltreich der Operette, dessen Kaiser Stolz nach dem Tode Lehárs war, sollte sich als dauerhafter erweisen als selbst noch die geniale Habsburgische Konstruktion der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie.
Du, du –
du sollst der Kaiser meiner Seele sein!
Du, du –du sollst den Purpur tragen ganz allein!
Du, du –
du sollst das Szepter führen;
du, du –
nur du darfst drin regieren,
du, du –
du ziehst als Sieger ein!
Kaiser der Operettenwelt
Du sollst der Kaiser meiner Seele sein ist, nebenbei gesagt, auch eines der schönsten Lieder, die je geschrieben wurden. Hier ist es am Platze, der kongenialen Textdichter zu gedenken, die das Glück hatten, zu erleben, wie ihren Versen durch Robert Stolz Unsterblichkeit eingehaucht wurde. Fritz Grünbaum, Dichter vorstehender Verse, ist 1941 im KZ Dachau zugrunde gegangen, ein Jahr vor Fritz Löhner-Beda, der in Auschwitz umgebracht wurde und der für Franz Lehár geschrieben hatte. Seiner gedachten wir an dieser Stelle anlässlich von Lehárs Singspiel Friederike. Doch während sich’s Lehár im »Dritten Reich« gutgehen ließ und die Deportierung und Ermordung seiner jüdischen Mitarbeiter und Textdichter mit ansah, ging Robert Stolz ins Exil, obwohl er weder Jude noch Kommunist war, weil er es nicht ertragen konnte und weil der Ekel vor den Nazis größer war als die Versuchung, im Nazistaat als gefeierter Komponist zu leben. Zu Beginn nutzte er seinen Ruhm, um mit seiner Limousine verfolgte Juden persönlich aus Deutschland herauszuschmuggeln. In seiner spannenden Autobiographie Servus, Du! wird das alles erzählt. Wie gesagt, a mensch.Ohne dass er es nötig gehabt hätte, teilte er auch das Leiden der Emigranten und wurde in Frankreich interniert, bis eine unbekannte junge Frau, »die meine Enkelin hätte sein können«, alle Hebel in Bewegung setzte, um ihn herauszuholen und den Todkranken aus einem französischen Lager herauskaufte: Einzi. Sie wurde seine fünfte und letzte Ehefrau.
Ich rufe dich sag hörst du mich
Ich will dir sagen was ich fühle ohne dich
Ich denk an dich ich sehne mich
Ich weiß ich kann dich nie vergessen
Widerstand im Walzertakt
Wenn wir uns heute das Phänomen der Operette anschauen, insbesondere die Werke eines Komponisten wie Robert Stolz, dann interessiert uns natürlich auch ihre soziale Funktion, ihr Ort innerhalb der kulturellen Hierarchie und die Dispositionen, die sie in den sozialen Klassen anspricht oder reproduziert. Die Wiener Operette, wie Robert Stolz sie vorfand, war das kulturelle Produkt einer Zwischenzone. Sie gehörte damals nicht zur hochkulturellen Sphäre des Musiktheaters, doch sie war auch nicht vollständig Teil der populären, enthemmten Massenkultur, wie sie sich später in der Schlagerindustrie oder dem Revuebetrieb artikulierte. Vielmehr bewegte sich die Operette in einem semi-legitimen Raum – dem, was man den Bereich der mittelkulturellen Praktiken nennen könnte –, in dem kulturelle Ambitionen und das Bedürfnis nach Unterhaltung in eine spezifische Form sozialer Distinktion überführt werden.
Ich liebe dich
Weißt du es nicht
Das sind die Worte aus
Dem tiefsten Grund in mir
Du bist soviel
Der Sinn mein Ziel
Die Antwort auf mein ganzes Leben
Robert Stolz, als exemplarischer Komponist dieser Gattung, hat in seinen Liedern eine Ästhetik des sentimentalen Eskapismus kultiviert, die besonders im Kleinbürgertum, aber auch in Teilen des Bildungsbürgertums besonders der Zwischenkriegszeit auf Resonanz stieß und die heute eindeutig Teil der Hochkultur sind, zumal er sich spätestens mit seinen Blumenliedern auf der Ebene Mozart-Schubert-Schumann-Brahms-Wolf wiederfand. Es ist kein Zufall, dass man die Texte seiner Lieder nicht nur privatistisch lesen muss, sondern immer auch zeitgeschichtlich lesen kann: Halt dich fest, dass du die Balance nicht verlierst… Seine Themenmaterial – eingängig, aber kunstvoll genug, um nicht trivial zu wirken – ermöglichen es dem Publikum, an einem Gefühl von Raffinesse teilzuhaben, ohne sich den Anstrengungen der kulturellen Akkumulation im Sinne der klassischen Bildung oder Avantgarde-Rezeption zu unterwerfen.
Die Operette – mehr als nur Unterhaltung
Das Liedgut von Robert Stolz verkörpert also eine spezifische Habitus-Form: Es erlaubt eine gefühlvolle Selbstvergewisserung, eine ästhetisierte Intimität, die zugleich von Nostalgie und sozialem Sicherheitsbedürfnis durchdrungen ist. Der Erfolg seiner Musik im Exil, besonders in Hollywood, aber auch ihre Wiederaneignung im deutschsprachigen Raum nach 1945, zeigt, wie kulturelle Produkte ihre Bedeutung im transnationalen Raum modifizieren können, während sie gleichwohl eine konstante Funktion erfüllen: die symbolische Reproduktion von Klassengrenzen durch Geschmack.
Die ganze Welt ist himmelblau
Wenn ich in deine Augen schau
Die Operette bei Stolz, mit ihren Themen von Liebe, Verlust, Heimat und Melancholie, war in diesem Sinne ein Spiegel der sozialen Welt, den man sich als Bourgeois leisten kann, ohne dabei den Preis der Reflexion oder Subversion zu zahlen. Diese Lieder sind Träger eines symbolischen Kapitals, das durch ästhetische Mäßigung den kulturellen Bedürfnissen derjenigen entspricht, die zwischen der ökonomischen Sicherheit des Bürgertums und dem kulturellen Prestige der Intellektuellenklasse oszillieren. Seine Form der Operette ist somit eine Kunstform der Ambivalenz; verachtet von prätentiösen Pseudo-Intellektuellen, geliebt von jenen, die sich nach dem Glanz der Hochkultur sehnen, ohne seinen Preis zahlen zu können. Das hat sich inzwischen geändert. Durch das Vordringen des angloamerikanischen Typs der Dudelmusik – sog. Popmusik – wurde das Werk von Robert Stolz in eine glanzvolle Position hinaufgeschoben. Er steht heute zwischen den Ganz-Großen.
»Im Prater blühn wieder die Bäume« – Gefühle, die bleiben
Dieses Lied evoziert durch seinen Text und seine einfache, aber gefühlvolle Thema ein nostalgisches Wien-Bild: Der Prater als Volksvergnügungsort, Frühling als Zeit der Wiederbelebung von Liebe, Natur und Gefühl. Die Naturmetaphorik direkt mit der Rückkehr der Liebe verbunden; ein romantisches, ja beinahe pastoral-idyllisches Narrativ. Dieses Lied richtete sich seinerzeit zunächst an einen kleinbürgerlichen bis unteren bildungsbürgerlichen Habitus, der sich durch ein Bedürfnis nach Gefühl, Heimat und historischer Kontinuität auszeichnet. Es erlaubte dem Hörer – besonders in der Nachkriegszeit – eine affektive Rückbindung an eine verlorene Welt, die gleichzeitig nie so existierte, wie sie im Lied evoziert wird: Das Wien der alten Zeit wird als emotionale Projektionsfläche stilisiert. Dabei handelte es sich um eine Form sentimentaler Kompensation, die vor allem für jene sozialen Schichten attraktiv war, deren kulturelles Kapital nicht ausreichte, um sich in die Avantgarde oder die Hochkultur zu flüchten, die aber dennoch ein Bedürfnis nach kultureller Erhebung verspürten. Das Lied gestattete ihnen, Gefühl als etwas Edles und Legitimiertes zu empfinden, ohne intellektuell herausgefordert zu werden. Die Melancholie des Themas sowie die unaufdringliche Eleganz der Walzerharmonik erzeugten ein distinktes kulturelles Ambiente, das gleichwohl nicht exklusiv wirkte. Es handelt sich um eine inklusive Form von Distinktion: Der Hörer erfuhr sich als kulturell verfeinert, aber blieb innerhalb seiner sozialen Sphäre. Diese Art von Musik eignete sich besonders für das Wohnzimmerklavier, für Schallplattenabende in gutbürgerlichen Kreisen, die sich durch Geschmack, nicht durch intellektuelle Tiefe definieren. Aus meiner Sicht hat sich diese Einordnung inzwischen geändert; das Lied und sein Komponist müssen heute neu verortet werden.
»Zwei Herzen im Dreivierteltakt« – Wien als Sehnsuchtsort
Zwei Herzen im Dreivierteltakt
die hat der Mai zusammengebracht
Dieses Lied – Titelstück eines gleichnamigen Films – verwebt die romantische Paarbeziehung mit dem Takt des Walzers: Der Dreivierteltakt als Inbegriff der wienerischen Musiktradition wird hier zum Symbol einer emotionalen und sozialen Harmonie. Zwei Herzen schlagen im gleichen Takt – eine banale Metapher, die jedoch tief in kulturelle Codes eingebettet ist. Stolz gelingt es hier, eine musikalische Form zu wählen, die zwischen Unterhaltung und Kunstmusik oszilliert. Der Walzer galt im frühen zwanzigsten Jahrhundert nicht mehr als rein volkstümlich, sondern hatte durch Komponisten wie Johann Strauß bereits einen semi-legitimen Status. Die Wiederaufnahme dieser Form in einem modernen (Film-)Lied stellt eine Strategie kultureller Anverwandlung dar: Der Rezipient konnte sich durch den Genuss dieser Musik an einem Erbe beteiligen, ohne sich aktiv in die kulturelle Praxis klassischer Musik einzuarbeiten.
Distinktion durch Konservierung
Ein Blick nur in dein Angesicht
Und ringsum blüht Vergissmeinnicht
Ja die ganze Welt machst du süße Frau
So blau so blau so blau
Die Betonung des Walzertakts als Träger einer idealisierten Harmonie ist ein Akt symbolischer Konservierung: In einer Moderne, die von Rationalisierung, sozialer Entwurzelung und kultureller Fragmentierung geprägt ist, bietet das Lied eine ästhetisierte Ordnung. Diese Ordnung ist nicht kritisch, sondern affirmativ – sie bestärkt bestehende soziale Strukturen (Heteronormativität, romantische Liebe, Bindung an kulturelle Codes des neunzehnten Jahrhunderts). Dieses Lied zirkulierte damals noch nicht in den symbolischen Zentren der Hochkultur, wohl aber in ihren Peripherien – bei intellektuell orientierten Bürgern, die sich zur gepflegten Unterhaltung bekennen. Es funktioniert im Modus der veredelten Sentimentalität – ein Begriff, der jene ästhetischen Produkte bezeichnet, die Gefühl als etwas Erhabenes legitimieren, ohne dass Reflexion oder ästhetische Transgression erforderlich wären.
Beide Lieder zeigen exemplarisch, wie die Operette und ihre Ableger wie das Schlagerlied im Dreivierteltakt nicht bloß zur Unterhaltung dienten, sondern soziale Praktiken der Selbstvergewisserung ermöglichten. Sie konstituierten einen kulturellen Raum, in dem sich Klassen durch Geschmack unterschieden, ohne offen politische oder ökonomische Kämpfe austragen zu müssen.
Das Erbe des Walzers
Robert Stolz bewegte sich zwischen dem symbolisch hochstehenden, aber ökonomisch schwachen Pol der Avantgarde (Schönberg, Berg, Webern), und dem ökonomisch erfolgreichen, aber kulturell abgewerteten Pol der Massenunterhaltung. Er gehörte zu einer Klasse von Produzenten, die das Halbfeld der mittleren Kultur bespielten, das man als einen Raum beschreiben könnte, in dem die sozialen Klassen ihren Geschmack zur Schau stellen, ohne den kulturellen Habitus der reinen Autonomie (wie bei den Avantgardisten) oder den rohen Hedonismus der Massenkultur (wie beim Schlager) zu bedienen. Die Operette wird in dieser Feldlogik zur symbolischen Zone der kontrollierten Emotionalität: Sie erlaubt es, Gefühl, Schönheit, sogar Humor zu erleben; aber auf eine Weise, die nicht vulgär, nicht avantgardistisch, sondern geschmackvoll erscheint. Stolz ist hier ein Feldspieler, der die Codes dieser Zone perfekt beherrscht. Innerhalb dieses Feldes herrschen ständige Kämpfe um Legitimation: Die Avantgarde kämpft für ästhetische Autonomie und gegen die Kommerzialisierung. Die klassische Tradition beansprucht kulturelle Autorität durch historische Legitimität. Die Unterhaltungsmusik versuchte, durch Popularität symbolisches Kapital zu generieren. Komponisten wie Stolz balancierten zwischen diesen Kräften: Ihre Werke sind elegant genug, um nicht trivial zu erscheinen, aber massentauglich genug, um profitabel zu sein.
Pole und Paradigmen
Robert Stolz und der zehn Jahre ältere Franz Lehár sind eng mit der Wiener Operettentradition verbunden, stehen aber jeweils an unterschiedlichen Enden ihrer Entwicklung. Beide waren Gesellschaftsmenschen, die namentlich bei den Frauen sehr gut ankamen. Und beide hatten das Glück, die intakte K&K-Monarchie noch zu erleben. Der eine verkörpert in seiner Persönlichkeit die ganze beschwingte Freigiebigkeit der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie (der ungarische Resonanzraum ist immer da), der andere auch die Melancholie und Grazie der Erblande. Sowohl der eine wie auch der andere freilich vermochte sich mitunter mit dem Lied der deutschen Frühromantik kurzuschließen; man denke an den Wolgastrand und Vor meinem Vaterhaus steht eine Linde. Beide mussten den Umschlag des Demokratismus in die totalitäre Diktatur erleben und reagierten darauf höchst unterschiedlich. In beiden Fällen haben wir es mit genialen Komponisten zu tun. Hätte Franz Lehár allein den Walzer Lippen schweigen geschrieben und Robert Stolz nichts als die Kleinen Veilchen, unser ewiges Andenken wäre ihnen schon sicher.
Musikalisch setzt Franz Lehár stärker auf weit gespannte, lyrische melodischen Bögen mit deutlich hörbarem Einfluss der italienischen Oper, insbesondere Puccinis. Wie man in Opern wie La Rondine und Madama Butterfly hören kann, war die Referenz zwischen Lehár und seinem zwölf Jahre älteren italienischen Kollegen freilich eine gegenseitige. Die Singstimmen bei Lehár sind oft tenoral oder sopranlastig, mit einem gewissen Anspruch an stimmliche Ausarbeitung und Ausdruckstiefe (Dein ist mein ganzes Herz). Sein Themenmaterial ist oft durchchromatisiert, mit einem Hang zum emotionalen Pathos, was ihn nahe an die spätromantische Oper rückt. Obwohl Franz Lehár die Existenz der neu aufgekommenen Schallplatte und ihrer kurzen Aufmerksamkeitsspanne bereits als gegeben hinnahm und zusammen mit seinem Stammsänger Richard Tauber davon zu profitieren wusste, war es doch Robert Stolz, der jene kurze, eingängige musikalischen Phrasen zu komponieren verstand, deren Struktur bereits vom Schlager beeinflusst ist. Seine Melodik ist funktionaler, stärker auf Ohrwurmqualitäten hin komponiert (Im Prater blühn wieder die Bäume). Der Gesangsstil ist oft gesprochen-gesungen (Sprechgesang), was der Verwendung in Tonfilmoperetten und Schlagerkontexten entgegenkommt. Lehár zielt auf lyrische Verklärung, Stolz auf zugängliche Eingängigkeit.
Stolz vs. Lehár: Zwei Genies, ein Metier
Im Prater blühn wieder die Bäume
In Severing grünt schon der Wein
Da kommen die seligen Träume
Es muss wieder Frühlingszeit sein
Lehárs Harmonik ist moderat chromatisch, mit Anleihen an die Spätromantik (z. B. Tristan-Anklänge), aber innerhalb klarer tonaler Grenzen. Er arbeitet mit modulierenden Reprisen, Zwischendominanten, alterierten Akkorden, meist mit symmetrischer Periodenstruktur. Lehár nutzt die Harmonik auch zur Charakterzeichnung (etwa durch Molltonarten in melancholischen Liebesduetten). Allein auch Robert Stolz vermochte Dur und Moll im Zentrum eines Refrains wirkungsvoll zu kombinieren. Man denke nur an das raffiniert komponierte Lied Wenn die kleine Veilchen blühen. Das Lied ist, nebenbei gesagt, auch das einzige des Wahlwieners Stolz, aus dem ich etwas spezifisch Grazerisches heraushöre. Stolz verwendet meist eine deutlich vereinfachte, tonale Harmonik – meist Dreiklangs- oder Kadenzharmonik, gelegentlich modulierend, aber selten dissonant. Die Harmonik unterstützt Atmosphäre und Textverständlichkeit, nicht Formentwicklung. Sein Stil zielt auf sofortige Wirkung, nicht auf strukturelle Raffinesse. Lehár schöpft das spätromantische Harmonikarsenal aus, Stolz vereinfacht es zugunsten von Popularität. Modernistische Skepsis hören wir auch in einem Chanson wie Auch du wirst mich einmal betrügen.
Franz Lehár setzt stark auf Walzer und Marschformen, oft als Kunstform stilisiert (z. B. Walzerduette mit retardierenden Phrasen, Rubato). Seine Rhythmen sind oft rubato und nutzt den Tanz als Ausdrucksmittel für emotionale Zustände. Der Rhythmus ist metrisch präzise, oft geradezu mechanisch strukturiert. Der Dreivierteltakt wird nicht künstlerisch ausgedeutet, sondern als unmittelbare Tanzstruktur genutzt. Tanz ist bei Stolz direktes Lebensgefühl, nicht Subtext. Lehár nutzt Tanzformen also zur Subtilität, Stolz zur Direktheit.
Orchestriert Franz Lehár oft farbenreich, mit Einflüssen der Oper: Holzbläsersoli, Harfe, weiche Streicherflächen, nutzt er das Orchester als charakterbildendes Mittel (z. B. Naturlaute, Salonsound, ungarisches Kolorit), so instrumentiert Robert Stolz ökonomisch, filmisch, teilweise bereits mit Blick auf die Anforderungen von Rundfunk und Schallplatte. Er bevorzugt eine klare Trennung zwischen musikalischem Thema und Begleitapparat; viel Homophonie, wenig polyphone Struktur. Lehár denkt noch im Klangideal der Oper, Stolz bereits im mediengerechten Kompaktklang. Beide bedienten sich des Exotismus; Lehár oft in hemmungsloser Pentatonik. Aber auch Stolz verschmähte es nicht, 1920 noch einmal das seit dem späten neunzehnten Jahrhundert beliebte kulturelle Klischee der Salomé aufzugreifen, man denke nur an Oscar Wilde oder Richard Strauss. Sein »orientalischer Foxtrott« Salomé, schönste Blüte des Morgenlands… klingt wie ein Nachhall des spätgründerzeitlichen Exotismus und erregte noch 1975 den Spott ihres Schöpfers angesichts der vielen Neufassungen: »Die alte Hur is ned umzubringen…«
Auch die Gattungsbezeichnung auf den Notenheft seines Op. 355 vermochte Stolz nur Spott zu entlocken: »Bist du verrückt? Es gibt keine ‚orientalischen Foxtrotts’!« Franz Lehárs Operetten sind meist dreiaktig, mit symmetrisch gegliederten musikalischen Höhepunkten (Finali, Duette, Arien). Oft finden wir hier tragikomische Figurenkonstellationen mit sentimentaler Tiefe. Dagegen arbeitet Stolz oft nummernhaft oder filmmusikalisch, dramaturgisch eher lose, mit Fokus auf Situationen statt Entwicklungen; die Dramaturgie ist sekundär gegenüber der emotionalen Momentwirkung. Lehár ist eher Dramatiker, Stolz eher Stimmungskomponist.
Im Prater blühn wieder die Bäume
Es leuchtet ihr duftendes Grün
Drum küss nur küss nicht säume
Denn Frühling ist wieder in Wien
Die Musik, die Deutschland nicht gefiel
Robert Stolz hat die Wiener Musik gelebt. »Damals, als ich zu dem Geräusch des barbarischen Stechschritts meine Heimat verließ, da hab ich mir gleich gedacht: Zu sowas san wir ned geboren. Es war grad so, als hätt man dem Mozart einen Stahlhelm aufgesetzt, dem Schubert einen Säbel umgeschnallt, und dem Johann Strauss einen Stacheldraht um den Hals gewickelt und gesagt: Strammjestanden! Jetzt komponiert mal was Schönes!«
Franz Lehár ist der letzte große Künstler der klassischen Operette, Stolz ihr pragmatischer Überführer in die populäre Moderne. Lehár komponiert mit symphonischem Anspruch, Stolz mit Blick auf das Kino, das Radio, das Wohnzimmer. Lehár sucht Tiefe in der Form, Stolz Wirkung in der Oberfläche. Lehár will bezaubern, Stolz will gefallen. Robert Stolz hat Musik geschrieben für eine Welt, die im Begriff war, sich zu verlieren – an Kriege, an Ideologien, an die fortschreitende Technisierung des Daseins. Seine Lieder klingen wie die letzten Bäume im Prater, die noch blühen, während im Hintergrund bereits die Panzerketten der Moderne rattern: Auf der Heide blühn die letzten Rosen. Der Jugend, der in diesem allbekannten Leid nachgetrauert wird, ist durchaus eine kollektive: Jener Epoche, da die geniale südosteuropäische Staatsschöpfung der Habsburger noch frisch und hoffnungsvoll war: Holde Jugend, holde Jugend; kämst du einmal noch zu mir zurück! Robert Stolz war kein Widerstandskämpfer, er war ein Rückzugsgebietskomponist. Seine Musik bot jenen einen Unterschlupf, die keine intellektuelle Wallfahrt zur Zwölftonmusik unternehmen wollten, sondern einfach nur ein bisschen inneren Frieden suchten; und das vielleicht mit einem Glas Sekt in der Hand.
Der stille Rebell
Servus du flüstert sie ganz leise
Servus du und denk nicht schlecht von mir
Man hat ihn oft mit Lehár verglichen, doch dieser war ein Spätromantiker, ein melancholischer Monarchist im musikalischen Exil. Stolz hingegen war ein demokratischer Gefühlsmanager, wurde zum Komponisten der Republik, als sie zerfiel. Seine Musik war keine Utopie, sie war eine verhaltene Rekonstruktion von Geborgenheit aus den Trümmern des bürgerlichen Lebensstils. Was mich an Stolz fasziniert, ist seine völlige Immunität gegen Pathos. Er hat nie behauptet, seine Lieder seien bedeutend. Und gerade deshalb sind sie es. Sie gehören zu jener Klasse von Dingen, die nicht groß sein wollen, sondern bewohnbar. Wie die bessere Sorte von Hotelzimmern. Wenn ich also sage: Robert Stolz ist ein Architekt des sentimentalen Realismus, dann meine ich das im besten Sinne. Er hat eine musikalische Welt entworfen, in der die Gefühle nicht explodieren, sondern ganz bleiben dürfen. Eine Welt, in der der Dreivierteltakt noch ein Takt ist, und nicht ein Taktstock, der auf uns niedergeht.
In einer Zeit, die entweder nach Überwältigung oder nach Ironie schreit, war Stolz der leise Flaneur, der sagt: Es war nicht alles schlecht. Zumindest nicht das Gefühl. Und das ist vielleicht das Mutigste, was man damals sagen konnte. Angesichts der angloamerikanisch dominierten Kulturindustrie unserer Zeit ist die Musik von Lehár allerdings, ebenso wie jene von Stolz, in einen besonders exklusiven Bereich der Hochkultur geschoben worden. Dies fordert Musikwissenschaftler und Musiker heraus, die Aufführungspraxis in beiden Fällen neu zu überdenken. Vor allem gilt es, eine belastbare Grundlage des Notenmaterials und möglichst authentische Aufführungen zu erarbeiten. Von beidem sind wir nämlich weit entfernt. Als Vorbild kann die Arbeit Nikolaus Harnoncourts an Smetanas Verkaufter Braut dienen. Auch bietet uns die Erinnerungen an die ernsthafte, dabei federnde Haltung, in der ein Bariton wie Fritz Wunderlich diese Art von Musik auffasste, heute wieder einen Einstieg. Das Nostalgische der Werke von Franz Lehár und Robert Stolz war zum Zeitpunkt ihres Entstehens Teil ihres Erfolges. Heute, in einer anderen Epoche, tritt dagegen das Zeitlose dieser Musik erst voll und ganz ans Licht.
Ein Nachmittag im Café Central: Lehár, Stolz und Schönberg streiten über Musik – fiktives Gespräch
LEHÁR Also wirklich, Robert, ich habe mir gestern Ihre Zwei Herzen im Dreivierteltakt angehört. Es ist gefällig, das will ich nicht leugnen. Aber man spürt nichts von Entwicklung. Kein inneres Ringen. Es bleibt beim Takt.
STOLZ Lieber Franz, und trotzdem summt es ganz Wien. Vielleicht sogar halb Berlin. Soll Musik nicht zu Herzen gehen – und nicht durch den Kopf?
LEHÁR Musik darf das Herz rühren, gewiss. Aber nicht überrumpeln. Sie muss sich entwickeln, in ihrer Form, in ihrer Harmonik. Denken Sie an Puccini – wie organisch er steigert, wie subtil er moduliert!
STOLZ Ich denke eher an die Kinobesucher, die nach der Arbeit einen schönen Abend haben wollen. Musik darf auch einfach sein. Ein Walzer, der sich wie ein Lächeln öffnet. Keine Doktorarbeit.
ARNOLD SCHÖNBERG Wenn ich das höre, möchte ich am liebsten meine Ohren abgeben. Musik als Lächeln? Musik ist Kampf. Form ist Notwendigkeit, nicht Dekoration!
STOLZ Ach, Herr Professor Schönberg! Ich hatte gehofft, Sie komponieren und lassen uns Unterhaltungsmenschen in Ruhe.
SCHÖNBERG Ich komponiere für die Zukunft. Nicht für die Masse. Meine Musik wird vielleicht nicht heute verstanden – aber sie zwingt zum Denken. Ihre Musik – entschuldigen Sie – zwingt zum Einschlafen.
LEHÁR Arnold, Sie verkennen vielleicht die andere Seite: Musik kann auch trösten. Erheben. Sie muss nicht immer das Subjekt zerreißen.
SCHÖNBERG Erheben? Wenn ich mich erheben will, setze ich mich auf einen Polsterfauteuil. Musik soll das Bewusstsein verändern! Nicht es bestätigen.
STOLZ Noch einen Kleinen Schwarzen, bitte, Herr Ober! Und vielleicht eine Portion Respekt.
OBER Sehr wohl, Herr Kapellmeister!
STOLZ Ich schreibe für Menschen, die nicht alles verstehen wollen. Die einfach spüren, wenn ein Takt sie mitnimmt. Mein Publikum ist nicht das Konservatorium. Es ist der Taxifahrer, die Näherin, das Mädchen im Kino.
SCHÖNBERG Sie bestätigen die Hörgewohnheit. Ich durchbreche sie. Ich bin der Chirurg, Sie der Coiffeur.
LEHÁR Arnold, Robert, vielleicht sind wir drei wie die drei Aggregatzustände der Musik: Ich bin der klassische Fluss: geordnet, aber lebendig. Robert ist das schimmernde Eis: fest, durchsichtig, beliebt. Und Sie sind das dampfende Gas: unsichtbar, heiß, und manchmal explosiv.
SCHÖNBERG Wenn schon, dann bin ich das Licht. Und Sie zwei – die Schatten.
Der Ober bringt den Kleinen Schwarzen. Ein Straßenmusikant draußen vor der Tür spielt auf der Drehorgel: Im Prater blühn wieder die Bäume…
Literaturhinweis:
Einzi und Robert Stolz
Servus Du. Robert Stolz und sein Jahrhundert
Autobiographie
bei amazon (Antiquaritat)
Robert Stolz: A Musical Legacy (Approx. 200 words)
On the 50th anniversary of Robert Stolz’s death († June 27, 1975), the composer of immortal songs like „Im Prater blüh’n wieder die Bäume,“ his unique legacy is celebrated. Stolz succeeded in creating musical themes that sound like old folk songs – a true „finder of musical themes.“ He was a „mensch“ with great „Gmiat,“ perfectly embodying the Viennese spirit despite being from Graz.
His song „Du sollst der Kaiser meiner Seele sein,“ composed shortly before Emperor Franz Joseph’s death, marked the beginning of Stolz’s era as the „Emperor of the Operetta State.“ While others collaborated during the „Third Reich,“ Stolz, neither Jewish nor Communist, went into exile. He even used his fame to smuggle persecuted Jews out of Germany, highlighting his humanity.
The Viennese operetta, as shaped by Stolz, navigated between high and mass culture. It offered sentimental escapism and allowed the petit bourgeoisie and parts of the educated middle class aesthetic self-assurance. Stolz’s music, once popular in living rooms, is now re-classified as high culture. His works, like „Im Prater blüh’n wieder die Bäume“ and „Zwei Herzen im Dreivierteltakt,“ reflect nostalgia and a need for social security.
Compared to Franz Lehár, who preferred lyrical melodies and operatic orchestration, Stolz focused on catchy, cinematic earworms. Lehár was the dramatist, Stolz the mood composer. Robert Stolz created music for a world on the brink of losing itself – a quiet flâneur whose songs are habitable and timeless.




