Ein Nachruf von Stephan Reimertz
Am 5. März starb Nikolaus Harnoncourt im Alter von 86 Jahren
Als sich im Dezember 1975 im Zürcher Opernhaus der Vorhang hob, gab er Blick und Ohr frei für eine neue Epoche der Musikgeschichte. Der Monteverdi-Zyklus von Nikolaus Harnoncourt und Jean-Pierre Ponelle revolutionierte die Aufführungspraxis der Musik ebenso wie die der Darstellung. Der sehnige Klang historischer Instrumente und die parataktische Phrasierungen waren damals unerhört und führten bei manchen Zuhörern zu Spott oder Seekrankheit.
Doch überwog die Begeisterung, zumal auch die höfische, allegorische Inszenierung von Jean-Pierre Ponelle davon überzeugte, dass gerade das Alte neu sein kann. Nicht nur gab Harnoncourt der Oper ihren Erfinder Claudio Monteverdi zurück, seine historisch-kritische Analyse und Interpretation wurde zum Widerpart des ein Jahr darauf in Bayreuth ebenfalls von Ponelle begonnenen Ring-Projekts mit Pierre Boulez. Mitte der siebziger Jahre war die Oper wieder frisch und herrlich wie am ersten Tag.
Revolution im Orchestergraben und auf der Bühne
Was man von da an Historische Aufführungspraxis nannte, war bei Harnoncourt mitnichten ein Konservatorium. Vielmehr stand die quellen- und aufführungskritische, die dialektische Auseinandersetzung mit Musik im Vordergrund. So war der adelige Dirigent eine belebende Ergänzung zu radikal modernen Musikern wie Gielen oder Boulez. Harnoncourts Wiedererschaffung von Monteverdi und Boulez’ Wiederbelebung von Wagner können in ihrer Bedeutung nur mit der Mozart-Renaissance der Zwanziger Jahre in München verglichen werden, deren Protagonist Bruno Walther hieß.
Als musikalischer Aufklärer im wahrsten Sinne war Harnoncourt einer der Protagonisten der Entkarajanisierung. Später haben auch Neville Marriner und Iona Brown, Orchester wie die Academy of St. Martin in the Fields oder das Freiburger Barockorchester dazu beigetragen, dass wir heute die Musik des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts mit frischen Ohren hören können. Musikwissenschaftliche und instrumentenkundliche Vorarbeit wurde so sehr zum Mainstream, dass sich heute niemand mehr daran erinnert, wie mühsam es bis in die achtziger Jahre hinein war, den dicken Vorhang wegzuziehen, den der ebenso spätromantisch wie technokratisch orientierte und mit zunehmendem Alter in beidem immer extremer werdende Herbert von Karajan über die Musik gelegt hatte.
Der Dirigent als Musikwissenschaftler
Wer in den siebziger Jahren dachte, Harnoncourt würde in seinen musikalischen Neuentdeckungen nun historisch immer weiter zurückgehen, war erstaunt zu sehen, als der in Berlin geborene luxemburgische Graf, der in seinem Herzen ein Steyrer blieb, historisch vorrückte bis ins neunzehnte und frühe zwanzigste Jahrhundert. Noch seine letzte großen Opern-Produktion, Smetanas »Verkaufte Braut«, auf der von ihm gegründeten Musikfest Styriate präsentiert, ging dabei aus jahrelangem Archivstudium, und unbestechlicher musikwissenschaftliche Analyse hervor. In solcher musikphilologischer Kritik hatte Harnoncourt in dem Dirigenten und Komponisten Igor Markevitch einen Vorgänger, der Beethovens Originalpartituren studierte und in der gedruckten Fassung mehr als zehntausend Fehler nachwies. Auch muss das neuerwachte Interesse am musikalischen Originaltext im Zusammenhang mit gleichzeitigen literarischen Editionen wie der Großen Frankfurter Hölderlin Ausgabe gesehen werden, die den Dichter erstmals im Original präsentierte und damit seine Rezeption auf eine völlig neue Ebene stellte.
Harnoncourt war der Pionier. Er brauchte noch Mut. Wie Alfred Brendel war er zudem ein denkender und schreibender Musiker; und nicht nur das: Wie dem österreichischen Landsmann und Pianisten Brendel gelang es dem Steyrer auch, und mit Vergnügen, gelesen zu werden. »Musik als Klangrede«, 1982 im Residenzverlag Salzburg erschienen, wurde das erste von vier Büchern, die sich der Berufsmusiker ebenso mit Gewinn zu Gemüte führt wie der interessierte Laie. Er lehrte uns, Musik aus ihren Quellen zu denken.
Musik mit Nicholas Harnoncourt
Über den Autor:
Dr. Stephan Reimertz, geb. 1962 in Aachen, ist als Kunsthistoriker ein typisches Produkt der strukturanalytischen Schule von Hans Sedlmayr in München. Seine philosophischen Lehrer waren u. a. Stephan Otto, Rudolf Schottlaender, Robert Spaemann und Wolfgang Stegmüller. Seine Musiklehrer waren Gerhardt Schroth (Klavier) und Sergiu Celibidache (Dirigieren und Musikphänomenologie). Reimertz ist bekennender Fan der Oper Frankfurt und von Aribert Reimann.
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