Von Birgit Koß.
Helmey Boum, 1973 in Duala – Kamerun geboren, lebt mit ihrer Familie in Frankreich. Sie hat in beiden Ländern studiert und ist eine renommierte Autorin. In ihren Romanen widmet sie sich ebenso wie ihr Landsmann Patrice Nganang („Die Spur der Krabbe“, Peter Hammer) den historischen Ereignissen Kameruns. In ihrem 2018 auf Deutsch im Peter Hammer Verlag – der seit über 50 Jahre afrikanische Autoren und Autorinnen regelmäßig veröffentlicht – erschienenen Roman „Gesang für die Verlorenen“ befasst sie sich mit der Kolonialzeit. Ihr jüngster Roman „Die Tage kommen und gehen“ beschäftigt sich mit der Zeit der Unabhängigkeit bis hin zur Gegenwart.
Die Autorin wählt drei Frauen unterschiedlichen Alters für ihre Geschichte, die in Kamerun und Frankreich spielt. Anna ist am Ende ihres bewegten Lebens angekommen. Ihre Tochter Abi holt die krebskranke, alte Frau aus Jaunde in ein Pariser Hospiz. Erst hier beginnt sie Abi von ihrem Leben zu erzählen. Anna stammt aus einer Familie, in der die Frauen jeweils bei der Geburt der ersten Tochter starben. So wuchs sie gegen Ende der Kolonialzeit mittellos bei Awaya, einer Freundin ihrer Mutter auf. Awaya ging jeden Sonntag in die Kirche, lebte aber gleichzeitig intensiv ihre überlieferte Spiritualität aus. Sie erkannte früh den Wert von Bildung und gab die kleine Anna in die Obhut der Missionsschwestern. Die wissbegierige intelligente Anna verschlingt alle Bücher, die ihr in die Hände kommen und schafft es schließlich bis zum Lehrerseminar in Jaunde. Hier lernt sie ihren späteren Ehemann Louis kennen – ein Mann aus dem Bamileke-Land, das während des Unabhängigkeitskrieges viele Widerstandskämpfer hervorgebracht hat, die grausam umgebracht wurden. Auch Louis sympathisiert mit dem Untergrund, tritt aber später dann doch in die Fußstapfen seines Vaters und wird in der Republik Kamerun ein einflussreicher wohlhabender Geschäftsmann, vom dem sich Anna Jahre später, lange nach der Geburt der gemeinsamen Tochter Abi, trennt.
Neben der Geschichte von Anna und ihrer Tochter Abi schildert Hemley Boum eindrücklich und sehr anschaulich die Zeit der Unabhängigkeit mit ihren Hoffnungen und Kämpfen und das Scheitern und die Übernahme der Macht in Kamerun, durch von Frankreich geförderte korrupte Eliten. Parallel versetzt schauen wir in die Gegenwart von Abi, einer erfolgreichen Journalistin in Paris, die mit dem soften Franzosen Julien verheiratet ist und zu ihrem Sohn Max. Über Ihrem Beruf lernt Abi einen afrikanischen Künstler kennen, mit dem sie eine leidenschaftliche Affäre beginnt. Es kommt zur Trennung von ihrem Ehemann, die den pubertären Max, der nicht akzeptieren will, dass seine bis dahin gutbürgerliche kleine Welt zerbricht, in eine große Krise stürzt. Da Max auch in der Schule sehr auffällig wird, beschließt die Familie, dass er ein Jahr bei seiner Großmutter Anna in Jaunde verbringen wird.
Und damit kommt Helmey Boum zur nächsten Generation in Kamerun und in die Gegenwart. Tina, Ismael und Jenny sind Kinder aus der Nachbarschaft, die aber quasi bei Anna mit aufwachsen und somit Freunde von Max sind. Diese Jugendlichen sind von Armut, leeren Versprechen und Verrat sowohl in den eigenen Familien als auch durch die Gesellschaft bedroht. Trotzdem verbringen die vier Jugendlichen eine gute Zeit zusammen und Max wird klar, dass sein behütetes Leben in Frankreich trotz der Familienkriese viel einfacher ist, als das Leben, was seine Freunde in Kamerun meistern müssen. Gereift kehrt er nach Paris zurück.
Der Roman endet zwei Jahre später, Anfang 2015, in Paris hat gerade das Attentat auf die Redaktion von Charlie Hebdo stattgefunden. Tina erzählt ihre Geschichte als ungeliebtes Waisenkind, missbraucht vom eigenen Großvater. Doch die Freundschaft mit Ismael und Jenny hilft ihr zu überleben. So zögert sie auch nicht, mit den beiden fortzugehen, als Jenny und Ismael nach einschneidenden Veränderungen in ihrem Leben ihr Heil im Islam suchen und sich schließlich einer Gruppe von Boko Haram im Norden Kameruns anschließen wollen. Zu dritt gehen sie zunächst freiwillig in das Lager – zu spät erkennen sie, dass sie in der Falle sitzen und es kaum einen Möglichkeit gibt, ihr lebend zu entkommen.
Hemley Boum beschreibt diesen Teil in bewegenden, eindrücklichen Bildern und teils sachlichen Bezügen. Sie sucht Erklärungen, warum junge Menschen in Kamerun diesen verzweifelten Schritt gegangen sind und immer noch gehen. Sie sieht eine Verantwortung bei den vorangegangenen Generationen und lässt Anna sagen: „Wir waren die erstes Generation in diesem Land, die etwas freier war, aber wir trugen die Last jahrhundertelanger, in Schweigen und Scham begrabener Knechtschaft. Die uns gebotene Freiheit war entstellt, voller Fallstricke, wir waren klug genug, unserer Grenzen zu erkennen, aber wo fanden wir den Mut zum Kampf, nachdem wir die Sonnen der Unabhängigkeiten in einem Blutbad ertrinken sahen …. Wir waren seit Jahrhunderten die erste Generation freier Menschen, und wir sind gescheitert. Aber vielleicht war die Realität zu brutal, um sich vom Traum forttragen zu lassen, würde Soyika sagen. Das ist keine Entschuldigung, sondern nur eine Feststellung.“
Durch die persönlichen Geschichten der drei Frauen aus drei Generationen gelingt es Hemley Boum ein sehr lebendiges Bild zu zeichnen, indem sie immer auch die politische und soziale Entwicklung Kameruns und den Bezug zu Frankreich herstellt. Viele Einzelheiten sind dabei nur wenig bekannt oder schon wieder in Vergessenheit geraten. Eindrücklich weist uns die Autorin darauf hin, wie aktuelle Entwicklungen ihre Ursprünge in der Geschichte, in diesem Fall insbesondere in der Kolonialzeit haben. Somit fügt der Roman sich wunderbar in die aktuellen Debatten um das postkoloniale Erbe ein. Außerdem legt sie deutlich den Finger in die Wunde, wie unterschiedlich wir – in der westlichen Welt – über den Terror vor unserer Haustür oder den in fremden Gesellschaften urteilen. „Später würde ich vom Angriff auf Charlie Hebdo erfahren und angesichts der ganzen Welt in Trauer würde mich ein Schwindel befallen. Wir betrauerten sowohl Jenny als auch Charlie, aber warum waren wir so allein, als wir um unsere Lieben weinten?“
Der Roman von Hemley Boum ist somit hochaktuell und gleichzeitig eine erhellende Darstellung der Entwicklung Kameruns seit der Mitte des letzten Jahrhunderts aus einer überwiegend weiblichen Perspektive. „Die Tage kommen und gehen“ ist zu Recht mit dem Prix Ahmadou Kouruma ausgezeichnet worden und ein Buch, das uns alle angeht.
Hemley Boum
Die Tage kommen und gehen
Aus dem Französischen von Gudrun und Otto Hinke,
Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2021
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