Der rumänisch-französische Dichter Eugène Ionesco, geboren als Eugen Ionescu, war Realist. Seine Dichtung zeigt die Menschen, wie sie sind. In seinem Stück Rhinocéros von 1958 verwandeln sie sich mitten auf der Bühne in Nashörner. Die Salzburger Kammerspielen geben den Klassiker des Theaters jetzt einmal anders – als Jugendballett. Stephan Reimertz wagt sich in den Zoo.
Wer ein Horn auf der Nase hat, weiß immer, wo es langgeht. Dass der Wegweiser nur der eigenen Kopfbewegung folgt, wird ihm nicht bewusst. Er sieht vor sich den höheren Fingerzeig. Eugène Ionesco interpretierte in seinem 1959 uraufgeführten Theaterstück Rhinoceros (Die Nashörner) das höchst energiehaltige und metapherntaugliche Tier als untergründige, gewalttätige Kraft, welche die Gesellschaft von unten zersetzt. So sehr der Dichter sein Werk auch als eine auf alle Zeiten anwendbare Parabel verstanden wissen wollte – man denke an Kafkas Verwandlung – so heftig wurde der Theatererfolg damals auf die Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts bezogen, besonders den Nationalsozialismus.
Einsame junge Frauen
In diesem double-bind spielt sich auch die höchst subtile und überzeugende Transformation von Ionescos Klassiker ab, die am vergangenen Freitag im Salzburger Kammerspiele Premiere hatte. Das Sprechtheater-Stück wurde in ein Jugendballett überführt, das sich für Kinder ab zwölf eignet, aber auch von Erwachsenen mit Gewinn besucht werden kann. Alexander Korobko, Josef Vesely und Kate Watson schufen eine abgründige, stringent durchgeführte Version für modernes Tanztheater, die nicht nur die Truppe der jungen Tänzer des Salzburger Landestheaters, sondern auch die ebenfalls jugendlichen Besucherinnen mitriß. Achtzig Prozent des Premierenpublikums bestand aus jungen Mädchen. Das verlieh dem Premierenabend eine besondere Frische, wie man sie in Salzburg kaum gewohnt ist. Das Durchschnittsalter der Festspielbesucher wird dort sonst nur noch von jenem der Papstwahl übertroffen.
Politisch konkret und zugleich auf alle Zeiten anwendbar
Diesem aufgeweckten jugendlich-weiblichen Publikum präsentierten sich die getanzten Nashörner nach Ionesco als perfekte Spiegelung ihrer Situation nach der Matura auf den ersten Schritten ins Leben in einer immer unsicherer und untergründig totalitär werdenden Welt, wie man sie in diesen Tagen gerade in Österreich verstärkt wahrnimmt. Das präzis und schwungvoll getanzte Stück geht von konkreten Lebensstationen junger Frauen aus und transformiert sich immer mehr in symbolische und abstrahierten Szenen. Die bedrohliche Figur des Nashorns ist von Anfang an vorhanden, zunächst nur als Schatten, dessen Existenz die Vergnügungssüchtigen leugnen wollen, am Ende als eine Armee, der niemand mehr ausweichen kann.
Schon in der zweiten Szene wird die Arbeitswelt konkret in satirisch-agogischer Inszenierung herausgearbeitet. Die Klänge erinnern jetzt an jenes Da-Da-Da, mit denen in der Bundesrepublik Deutschland der Techno-Pop in den frühen achtziger Jahren den neokapitalistischen neuen Arbeitszwang karikierte, welcher gerade in Österreich fast vierzig Jahre später ebenfalls eingeführt werden soll. Die Inszenierung lässt keinen Zweifel daran, was dies für die Menschen und ihre Befindlichkeit, für die Kultur des Miteinanders bedeutet: Die völlige Vernichtung.
Subtil und verzweifelt
An diese Stelle müssen die großartigen, präzisen und höchst eleganten Kostüme von Alois Dollhäubl erwähnt werden. Die Manager von Wien bis Salzburg könnten froh sein, wenn ihr ein Hugo-Boss-Anzüge so elegant und perfekt sitzen würden wie die schicken Parodien dieses Kostümbildners. Und auch die jungen Frauen kommen in seinen luftigen, mal mädchenhaften, einmal geschäftsmäßigen Blusen, Röcken und Kleidern sehr gut zur Geltung. Der Künstler hat sehr gut verstanden, dass sich viele der an sich doch entzückenden jungen Österreicherinnen dem Marketingmonster und der Entfremdung in die Arme geworfen haben und das wertvollste an ihrem Erbe verschleudern. Diese jungen Möchtegernmanagerinnen, Juristinnen und sonstige Heldinnen der entfremdeten Welt sieht man in Salzburg abends in vermeintlich coolen und beweisen damit einmal mehr, dass bei Österreichern das Managergetue noch trauriger wirkt als bei Bundesdeutschen. Das wertvolle, ehrwürdige Erbe Österreichs und Salzburgs wird derzeit systematisch zerstört, und das neue Jugendballett reflektiert diesen Verlust ohne jede platten Bezug, sondern subtil und verzweifelt.
Das Nashorn als totalitäres Marketingmonster
Die Musik entwickelt sich entsprechend aus vermeintlich harmloser Tanz- und Unterhaltungstönen zu immer stärker bedrohlichen Klängen und untergründigen Nöff-nöff-Tönen der allgemeinen gesellschaftlichen Nashornwerdung. Es ist eine entscheidende Stärke dieses modernen Tanztheaters, dass die Inszenierung niemals ins platt Vordergründige kippt, also auch keine Nashornmasken o. ä. zu sehen sind. Auch die Umstellung des modernen Menschen mit Telekommunikation und Computer ist thematisiert, ohne dass die Regie moderne Geräte zur Illustration dieses allgemein bekannten Faktums heranziehen muss. Das Stück endet in totaler Vereinsamung und Entfremdung des Individuums. Es ist zu hoffen, dass die jungen Besucherinnen die Warnungen begreifen, die das kongeniale Produktionsteam in dieses Tanztheater eingeschrieben hat.
Das junge Ensemble tanzt und agiert durch und durch brillant. So sehr das Stück, wie schon Ionescos Vorlage, auf alle Zeiten und Gesellschaften angewendet werden kann, so sehr musste man es in jener Stunde in Österreich auch auf die konkrete Situation beziehen, in der die neugewählte Bundesregierung sich Herzlosigkeit, Überwachung, Arbeitszwang, Ausbeutung und offiziöse Abwertung alles Andersartigen ganz offen auf die Fahnen geschrieben hat.
Die Nashörner.
Frei nach Eugène Ionesco
Jugendballett, ab 12 Jahre
Alle Aufführungen bis Ende März hier
Bei Verwendung des Textes bitte Quelle angeben bzw. verlinken.