Von Carsten Schmidt.
Auf den ersten Blick wirkt die Autorin Noémi Kiss, als wäre sie tief in Gedanken, wenn sie auf größeren Veranstaltungen wie der Frankfurter Buchmesse liest, still und zurückhaltend. Sie lässt Moderatoren und Übersetzerinnen den Vortritt, reißt nie das Mikro an sich. In kleiner Runde blüht sie jedoch auf und man merkt den Menschen in ihrem Umfeld an: Sie hören auf jedes Wort.
Als Mensch wie als Autorin wirft Noémi Kiss nicht gerade mit Worten und Büchern um sich. Sie überlegt lange, bevor sie etwas sagt. Dann aber ist es relevant, luzide und stimmig. Es ist dieser kluge, sich sacht annähernde Blick an die Dinge und Begebenheiten, der ihrer Leserschaft in der „Zeit“ oder ihren Büchern großen Respekt abverlangt.
Was Noémi Kiss in ihrem Buch „Was geschah, während wir schliefen“, 2012 bei Matthes & Seitz erschienen, eher handwerklich spielerisch und gewagt probierte, nämlich das Spannungsfeld erzählerisch auszuloten zwischen Realität, Innenwelt, sexuellem Exzess bis hin zur Grenze der Gewalt – das hat sie nun in einen tiefgründigen Gesellschaftsroman der ungarischen Wendezeit um die Lehrerin Lívia gepackt, die mit dem staatlich geförderten Athleten Öcsi eine folgenschwere Beziehung eingeht. Mutterschaft, Partnerschaft und Freiräume als Themen in einer Gesellschaft, die sich heute wieder in eine Richtung bewegt, dass Mann und Frau auf jedes Wort achten müssen. „Dürre Engel“ spielt bereits im Titel mit Assoziationen zwischen Leben und Tod, zwischen dem leben wollen aber nicht dürfen, dem zum Leben angelegten aber nicht lebensfähigen. Zwischen diesen Extremen taumeln die Hoffnung, die erstickte Freude auf der einen Seite – und der Erwartungsdruck und das Rollenbild auf der anderen.
Nicht nur in Ungarn galt und gilt: Frau sein heißt Mutter werden. In vielen Gesellschaften rund um den Globus ist dies bis heute leider eine eng gesetzte Norm, eine Rolle, eine fast brutale Erwartung, die an junge Frauen geheftet wird wie ein Abzeichen, das man zwar per Geburt bekommt, das man sich jedoch anscheinend verdienen muss. Im kühlen deutschen NS-Staat war in den Jugendorganisationen der Beiname für den Bund Deutscher Mädel (BDM) in aller Munde: Bald Deutsche Mutter, das weibliche Individuum eingereiht in die Rolle für die Gesellschaft.
In nicht vielen Kreisen sind diese Normen heute überwunden, sind diese Ansprüche gelockert – und Frauen können leichter und unbeschwerter damit umgehen und ihr Leben selbstbestimmter gestalten.
Lívia hat in den 80ern nicht das Glück, in einer solch unbeschwerten Atmosphäre aufzuwachsen. Ihr weibliches wie männliches Umfeld bedrängt sie förmlich mit der Frage, wann sie endlich Mutter wird. Neben der subtilen und eklig zähen Macht der Männer stellen sich direkte Drohungen, Erpressungen und Einschüchterungen. Macht und Ohnmacht – Karriere oder Karriereende? Mitmachen und den Mund halten, oder dagegen ankämpfen und sozial isoliert sein?
In einem traumhaften, schmerzvollen Wirbel von Erinnerungen setzt sich für die Leser und Leserinnen das Bild zusammen, ein Bild von Zwischenschritten, die Lívia dazu trieben, nicht nur sich zur Wehr zu setzen, sondern ihren Partner Öcsi umzubringen.
„Dürre Engel“ ist ein Buch, in dem Noémi Kiss beweist, wie vielschichtig sie schreiben kann. Der gesellschaftliche Leim, der einen festhält und sich nur wabernd bewegt, wird grandios beschrieben, wie die ebenso ermüdende Gravitation der unglücklichen Ehe von Lívia und Ösci:
„Im Schneckenhaus der Ehe wohnen zwei Fremde, mit getrennten Decken.
So weit voneinander entfernt, dass sie keine Ahnung haben,
ob der andere Luft holt.
Sie begegnen sich nicht einmal mehr im Traum.“
In Zeilen wie diesen, empathisch und klanglich exzellent übersetzt von Éva Zádor, sind es die Aspekte der toxischen Partnerschaft, aber auch der wichtigen weiblichen, schmerzhaften Themen wie Schwangerschaftsabbruch und Unfruchtbarkeit, denen sich die Autorin mutig und kraftvoll widmet. Sie schildert präzise und emotional eindrücklich, wie schicksalhafte Mosaikteile auf das Gesamtbild Einfluss nehmen.
Noémi Kiss hat mit „Dürre Engel“ einen bedeutenden Roman geschrieben, der vor der #metoo Debatte Gestalt annahm und weit darüber hinaus wirken sollte – thematisch, gesellschaftlich und künstlerisch.
Noémi Kiss
„Dürre Engel“
Deutsch von Éva Zádor
Europa Verlag, München 2018
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