Tobias Kratzer und sein Regie-Debüt auf dem grünen Hügel
Die im Oktober 1845 in Dresden uraufgeführte Oper von Richard Wagner erlebt ihre neunte Bayreuther Inszenierung. Die filmisch-postmodern-ironische Produktion von Bayreuth-Debütant Tobias Kratzer fand beim Publikum überwiegend Zustimmung. Die norwegische Sopranistin Lise Davidsen beherrscht stimmlich die Szene. Held der Aufführung jedoch ist ein Citroën Typ H.
Zehn Fragen an Bayreuth-Besucher Stephan Reimertz.
In diesem Jahr stehen in Bayreuth neben dem neuen „Tannhäuser“ nur der „Lohengrin“ vom letzten Jahr, „Meistersinger“, „Tristan“ und „Parsifal“ auf dem Programm der Bayreuther Festspiele. Welche Produktion, die neue eingeschlossen, ist am besten gelungen?
Allein in der Produktion des Parsifals von Ex-Schauspieler Uwe Erich Laufenberg, seit 2016 im Programm, kann ich eine ernsthafte, angemessene und ästhetisch überzeugende Inszenierung erkennen. Musikalisch ragen die von Christian Thielemann geleiteten Aufführungen heraus. Da ist eine neue Stufe der Wagner-Interpretation erklommen. Die Regie hingegen bietet insgesamt ein desolates Bild.
Gilt das auch für die Neuinszenierung des „Tannhäusers“ von Tobias Kratzer?
Für die ganz besonders. Kratzer zeigt sich vollkommen unwillig, den geistigen Gehalt der Oper zu analysieren und in Bilder umzusetzen. Anstatt dessen begeht er den tödlichen Fehler, von Anfang an verblüffen zu wollen. Im Dominoeffekt reißt seine inszenatorische Eitelkeit die gesamte Produktion in den Abgrund.
Wann bemerkt man, dass die Inszenierung schief läuft?
Leider hört man schon bei den ersten Takten der Ouvertüre, wie Kapellmeister Waleri Gergijew die Partitur illustrativ nimmt, wie ein Bilderbuch, in einer interpretatorischen Naivität, die man an einem Ort, an dem Pierre Boulez dirigiert hat, überraschend finden wird. Wie Georg Solti in den Achtzigerjahren ist Gergijew einer der Bayreuther Roll-Back-Dirigenten. Ich bin aber keine zehn Jahre alt und möchte das nicht hören.
In der Presse wurde unterstellt, die Buhrufe für Kapellmeister Gergijew hätten weniger seiner musikalischen Leistung als seiner politischen Haltung und Freundschaft mit Wladimir Putin gegolten.
Es sagt viel aus, dass die Presse den Protest gegen den Dirigenten politisch interpretiert, denn für die Presse existiert die Musik nicht. Die Bezeichnung »Putin-Dirigent«, die ihm in den Medien angeheftet wurde, finde ich unwürdig; sie fällt auf die Journalisten zurück. Ich konnte Waleri Abissalowitsch nicht zujubeln, so gern ich es getan hätte. Denn leider waren die Buhrufe für den Kapellmeister, sein grobmotorisches Dirigat, seine eindimensionale Interpretation, ebenso gerechtfertigt wie für ein zusammengewürfeltes, noch nicht vollkommen aufeinander eingespieltes Orchester. Insgesamt waren nach meiner Einschätzung ca. 40 % der Premierenbesucher am Donnerstag gegen die Neuinszenierung, 60 % dafür. Am Sonntag gab es dann fast nur noch Bravo-Rufe. Da die Besucher ca. vierzig bis siebzig Jahre alt sind, fühlte ich wieder einmal, dass mich mit meiner eigenen Generation nichts verbindet.
Wie passt die Bebilderung durch Regisseur Tobias Kratzer und Bühnenbildner Rainer Sellmaier dazu?
Sie passt leider nur allzu gut dazu. Anstatt sich während der Ouvertüre sammeln zu können – dafür sind Ouvertüren und Vorspiele nämlich da – wird der Zuschauer sogleich mit einem Film angesprungen. Wir überfliegen die Wartburg in einem Filmchen, das vom thüringischen Fremdenverkehrsverband in Auftrag gegeben sein könnte. Sodann entdecken wir in Thüringens grünen Wäldern von oben einen Citroën Typ H. Für Liebhaber von Oldtimern ist das die ideale Operninszenierung, denn das Töfftöff bleibt bis zum Ende ein scheppernder Handlungsträger. In dem Gefährt, das bessere Tage gesehen hat, entdecken wir Tannhäuser als Clown, Venus als Disco-Girl, zudem zwei Figuren, die in Wagners allerdings sehr einfältiger Partitur gar nicht vorkommen: Die überdimensionale schwarze Drag Queen »Le Gateau Chocolat« und Manni Laudenbach als kleinen Blechtrommler Oskar. Das Kleeblatt könnte Tod Brownings Film Freaks entsprungen sein. Und so schließen wir die liebenswürdigen Vier schnell ins Herz und empfinden dann im zweiter Akt den Landgrafen und die offiziösen Ritter in ihrer Identifikation mit dem Aggressor als die eigentlichen Freaks. Die verrückten Vier dagegen sind Teil von uns, das Menschliche in seiner Verletzlichkeit. Quod erat demonstrandum.
Was bezweckt der Regisseur damit?
Tobias Kratzer fehlt es, wie so vielen Regisseuren, am Vertrauen ins Theater. Er macht aus der Titelpartie ein Dream-Team, um die Figur zu verdeutlichen, und er schert ständig in den Film aus. Die Themen dieser Oper: Dualismus, Außenseitertum, Begehren und dessen Ordnungen, gesellschaftliche Gewalt und ihre Überwindung, im Kern freizulegen und konsequent durchzuführen, ist ihm zu mühsam. Er kommt mir vor wie einer, der als Kind zuviel Fernsehen geguckt hat und nun nicht mehr vom Bildschirm loskommt.
Wie gehen die Sänger-Darsteller mit dieser Regie um?
Sehr unterschiedlich. Elena Zhidkowa als Venus – sie sprang für die erkrankte Ekaterina Gubanowa ein – erscheint als eine Art fünfzehnjähriges Disco-Girl, das für jeden Streich zu haben ist. Die erotische Faszination, die von Venus ausgehen soll, und die das Leben mehrerer Menschen vernichtet, versteht man bei einer solchen Auffassung der Rolle natürlich nicht. Stephan Gould, altgedienter Bayreuthianer und heuer auch wieder als Tristan auf der Bühne, ist wie immer darstellerisch gewaltig; allein in der verkrampften Inszenierung klang sein Organ bisher hochgepresst und nachgerade hässlich; was man freilich als der Rolle angemessen ansehen kann. Mich persönlich stört sein amerikanisches R. Als besonders tragisch kann die Situation von Markus Eiche angesehen werden. Weltweit gibt es derzeit wohl keinen besseren Wolfram. Dieser seriöse, eher konservative Künstler ist gezwungen, in einer Produktion mitzuwirken, deren künstlerische Legitimation man anzweifeln darf. Mit stoischer Noblesse liefert Eiche seine Partie ab; inklusive des zum Volkslied avancierten und eine Todesverkündigung enthaltenen »Holden Abendsterns«. Die drei Knaben im zweiten Akt sind vier Mädel – geschenkt! Solch opportunistischer Pseudofeminismus liefert uns hier zumindest eine andere Klangfarbe, wie auch der Hirte von einer hübschen Frau gesungen wird, Katharina Konradi. Lise Davidsen als Hl. Elisabeth von Thüringen ist die Königin der Szene, ihre modulative und starke Sopranstimme lässt keinen Zweifel daran, wer den Abend rettet. In ihrem Falle bin ich mit dem Kostüm von Rainer Sellmaier höchst einverstanden. Hier kam, wie aus Versehen, eine Ernsthaftigkeit zum Ausdruck, welche die ganze Inszenierung hätte durchziehen können. Auch der Gesangswettbewerb im zweiten Akt zeigte für Momente, wie man eine Oper stilrein inszeniert; das ist genau das, was ein ernsthafter Zuschauer sehen möchte. Was die neue Produktion uns dagegen bietet, ist Oper für die zynische, abgefuckte Mediengesellschaft, und diese hat sich unfehlbar darin wiedererkannt.
Welches sind die gröbsten Regiefehler dieser Inszenierung?
Man muss unbedingt verstehen, dass Tannhäuser stirbt, ohne dass die Botschaft seiner Absolution aus Rom eingetroffen ist und ihn erreicht hat. Da der ganze auf einem Blachfeld spielende III. Akt im Chaos versinkt, kriegt man das ebensowenig mit wie Ursache und Zweitpunkt des Todes der Elisabeth. Als besonderes Versäumnis empfinde ich, dass man am Ende keinen erblühenden Stab präsentiert bekommt. Das ist die Pointe der ganzen Oper und wäre in Zeiten der ökologischen Vernichtung unserer Erde auch ein treffliches Symbol. Die Hölllenhitze ist bei den ganzen Festspielen bei den Pausengesprächen Thema Nummer Eins.
Wie kommt es immer wieder zu solchen Unfällen?
Wir sollten froh sein, dass wir in deutschen Landen – Österreich und die Schweiz inbegriffen – ein vorzügliches öffentliches Opernsystem haben. Wir verfügen über soviel Opernhäuser wie der Rest der Welt zusammengenommen. Dieses kostbare Erbe sollten wir erhalten und pflegen. Aber die Zerstörung des Bildungssystems, wie sie in den siebziger Jahren begann und wie sie inzwischen – durch Bologna, Modulsystem, Genderideologie usw. – auch die Universitäten zugrunde richtet, bringt nun auch die Oper, als einen Teil des Bildungssytems, zu Fall. Wenn wir uns an Richard Wagner, seine Schriften, seine Musik halten, ist uns jedoch der Weg in eine bessere Zukunft gewiesen. Die ökologisch-soziale Revolution, die Wagner einfordert, sollten wir bis zum nächsten Jahr in die Tat umsetzen, dann werden auch die Inszenierungen seiner Werke in Bayreuth wieder besser.
Wie kommt man als Besucher damit zurecht, dass es in Bayreuth keine Obertitel gibt?
Jedem sei empfohlen, das Textbuch am Tag der Aufführung noch einmal zu lesen. Das Libretto des Tannhäusers kann man wie alle Wagner-Textbücher auch unabhängig von der Musik genießen. Ich empfinde es so, dass, je mehr ein Textbuch für sich allein stehen kann, desto besser ist es auch für die Musik. Eine große Dichtung drängt die Musik nach vorn. Sichere Textkenntnis hilft dem Besucher zudem, sich nicht in einer oberflächlichen Inszenierung mit Bildern zuballern zu lassen wie im neuen Bayreuther Tannhäuser.
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