Rezension von Ingobert Waltenberger.
Während in Babelsberg im Mai dieses Jahres die Filmarbeiten zum 1962 geschriebenen zweiten Band „Jim Knopf und die Wilde 13“ beendet waren (der Streifen soll im Oktober 2020 in die Kinos kommen), hebt nun die Komische Oper die Geschichte von Michael Endes Kinderbuchhit ,Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer‘ als Auftragswerk auf die Bretter, die die Welt bedeuten. König Alfons’ Lummerland und die Lok Emma standen heute nicht in Potsdam als Filmkulisse im Mittelpunkt, sondern dürfen in der Behrenstraße bunt und phantasievoll unsere Gemüter erheitern. Die erste Bühnenversion gab es in Augsburg, und zwar im berühmten Marionettentheater Augsburger Puppenkiste.
Ein bewährtes Team
Als Team hat die Komische Oper auf bewährte Kräfte zurückgegriffen: Nach dem Erfolg von „Schneewittchen und die 77 Zwerge“ haben sich Komponistin Elena Kats-Chernin und Librettistin Susanne Felicitas Wolf an die Arbeit gemacht, eine Textfassung für die Bühne samt Musik zu erfinden. Dabei wird aus der märchenhaften Selbstfindungsgeschichte des Jim ein “Wie haben uns alle lieb” und “Bei uns ist jeder Willkommen-Stück”. Macht aber nix, denn der Star des Abends ist soundso nicht das Libretto, sondern sind das unglaublich ästhetische, aus der Kunstgeschichte zitierende Bühnenbild samt Videoprojektionen des Lukas Noll und die das Zauberreich der Phantasie ausschöpfenden Kostüme des Alfred Mayerhofer. Regisseur Christian von Götz schickt seine Figuren überwiegend in konventionellen Bewegungsmustern auf die Bühne, die Choreographie ist einfach gestrickt. Wäre da nicht die schräge Revuenummer mit den zwei Geiern in der Wüste zu Beginn des zweiten Aktes, die in rosa Strümpfen und glitzernden Spitzhüten Jim und Lukas auf den Leib rücken (vom Applaus her die gelungenste Einzelnummer) und der theatersatte Auftritt der wie Dinos aussehenden Drachen in Kummerland, wäre die gut zwei Stunden dauernde Aufführung wohl selbst für Sechsjährigen allzu brav und aktionsarm.
Können wir uns neben der optischen Qualität der Aufführung dennoch mitreißen lassen vom verwegenen Abenteuerdrang des Jim, der seine Welt selber erforschen will und sein Schicksal selbst in die Hand nimmt? Ja, und dafür sorgt in erster Linie die handwerklich exzellent gearbeitete Partitur der Elena Kats-Chernin. Die einfachen Melodien der Songs und Ensembles werden von einem raffiniertest instrumentierten und den Namen Oper verdienenden Orchester teils in musical-operettenhafter, teils in revuehafter Manier unterlegt. Traumhaft exotisch klingt es da aus dem Orchestergraben, selbst der Lehar hätte mit der Musik seine(n) Freud’ gehabt.
Worum geht es in der Oper?
Das Waisenkind Jim ist per Paket zwar an Frau Mahlzahn auf Kummerland adressiert, wird aber wegen des Gekritzels der 13 Banditen an Frau Waas auf Lummerland zugestellt. Was für ein wunderbarer Fehler der Post! Frau Waas ist nämlich nicht nur die netteste Frau von ganz Lummerland, sondern auch die einzige. Sie wohnt in einem Haus mit einem Kaufladen, in dem es alles gibt. Manchmal tut ihr das Herz weh, weil sie Jim so sehr liebhat. Dann muss sie ganz schnell mit Jim durch die Stube tanzen oder für alle Lummerländer einen Kuchen backen, damit traurige Gedanke davonsausen.
Auf der Website von Michael Ende wird die Geschichte in Kurzfassung so erzählt: „Jim Knopf wohnt auf der Insel Lummerland, und an den meisten Tagen ist Jim glücklich auf Lummerland. Dort gibt es so ziemlich alles, was man sich wünschen kann: zwei Berge, ein Schloss, eine Einbahnstrecke und vor allem den Kaufladen von Frau Waas. An manchen Tagen aber ist das mit dem Glücklichsein nicht ganz so einfach. Da fällt Jim nämlich auf, dass es auf einer so kleinen Insel ganz schön eng werden kann. Vor allem, wenn man Abenteuer erleben will und in sich so eine kribbelnde Art von Sehnsucht verspürt. Zum Glück hat Jim den besten Freund, den ein Kind überhaupt nur haben kann: Lukas den Lokomotivführer. Lukas fürchtet sich nämlich vor nichts, und deshalb sagt er zu Jim, weil dem das ganze Lummerland zu klein ist: „In Ordnung, mein Junge. Los geht’s.“ Und dann steigen die beiden in ihre Lokomotive Emma und machen sich auf zu neuen Abenteuern bis nach Mandala.
Jim will dort dem Kaiser helfen, die von der Wilden 13 für Frau Mahlzahn entführte Tochter Li Si zu befreien. Dazu müssen sie erst den Oberbonzen Pi Pa Po überwinden, was mit Hilfe der quirligen und neugierigen Ping Pong rasch gelingt. Also geht es mit Emma auf nach Kummerland bei den rotweißrot gestreiften Bergen und den 1000 Vulkanen. Auf der Reise treffen sie auf den einsamen Scheinriesen Tur Tur, der ihnen Wasser gibt sowie auf Nepomuk, den Halbdrachen. Der ist traurig, weil seine Mama ein Nilpferd vom Zoo ist und niemand sich vor ihm fürchtet. Lukas repariert seinen verstopften Vulkan und dafür verrät Nepomuk den beiden Helden den Weg nach Drachenland. Emma wird kurzum als Drache verkleidet und Jim kann mit Mut und Emmas Kraft Frau Mahlzahn besiegen. Gefesselt wird sie im Schlepptau über den gelben Fluss zurück nach Mandala gebracht.
Weil ein Märchen ein Märchen ist, ist die schöne Li Si ihrem Befreier Jim versprochen. Zurück mit einer kleinen Lotusblüteninsel im Schlepptau wird auf Lummerland Verlobung gefeiert. Als Geschenk gibt es das Lokkind Molly…
Das Bühnenbild besteht aus einem grünen Achter, auf dem sich die schöne Lok Emma in eleganten Kurven bewegt. Eine Drehbühne, Videoprojektionen und eine sehr gute Lichtregie sorgen für Stimmung und Atmosphäre. Gleich ob es das Meer ist mit seinen Seepferdchen, Quallen und Fischlein, das Kaiserreich Mandala oder das gar nicht so schreckliche Drachenland.
Die Besetzung mit der entzückenden Georgina Melville als kecker Jim und Carsten Sabrowski als kumpelhafter Lokführer Lukas an der Spitze singt erstklassig, von der Personenregie sind sie nicht überfordert. In der Doppelrolle Frau Waas/Frau Mahlzahn kann Christiane Oertel ihre beeindruckende Altstimme grummeln und grollen lassen. Der Charaktertenor Christoph Späth ist goldrichtig gewählt für die Rollen des Herrn Ärmel, des Herrn Tur Tur und als Geier 1. Dominik Köninger gibt den vertrottelten König Alfons der Viertel-vor-Zwölfte, den armen Halbdrachen Nepomuk und den machtgierigen Oberbonzen Pi Pa Po. Die fesche Alma Sadé darf als Rechengenie Li Si wieder zu Papa Kaiser von Mandala Alexander Fedorov, der auch den zweiten Geier würdig verkörpert.
Das Orchester der Komischen Oper Berlin unter der musikalischen Leitung von Ivo Hentschel darf sich diesmal rühmen, neben einem Saxophon auch eine Sheng (Mundorgel) und eine Erhu (Kniegeige) in ihren Reihen sitzen zu haben. Der frisch drauf los singende Kinderchor trägt zehnstimmig zur Stimmung und Erbauung bei. Denn wir haben soeben eine “Geschichte über Mut, grenzenlose Freundschaft, Abenteuer, Toleranz und die Erkenntnis gesehen, dass man gemeinsam stärker und glücklicher ist als allein.” Den zahlreichen Kindern im Publikum (die sich nach dem ersten Akt auf die Brezeln im Buffet gestürzt haben) hat es dem Schlussjubel nach gefallen. Applaudiert wurde skandiert wie im Zirkus zu (eigens dafür geschriebener) Orchestermusik.
Die ästhetisch großartige, dramaturgisch den großen Spannungsbogen vermissende Aufführung ist empfohlen für kleinere und größere Kinder ab 6 Jahren!
Zur Oper gibt es auch eine Hörbuch-CD mit Andreas Pietschmann als Sprecher.
Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer
Kinderoper in zwei Akten [2019]
Libretto von Susanne Felicitas Wolf nach dem gleichnamigen Kinderbuch von Michael Ende
Auftragswerk der Komischen Oper Berlin
Weitere Termine bis Februar 2020
Komische Oper Berlin
Behrenstraße 55-57
10117 Berlin
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