Ein Filmtipp von Ingobert Waltenberger.
Im September 2008 treffen in Paris an der Uni zwei musik-, literatur- und kunstbegeisterte Burschen aufeinander, kaum 18 Jahre alt. Beide glühen vor Intensität und jener kreatürlich unbehauenen Leidenschaft, die nicht zählt und nicht misst. Der eine, Lucas Debargue, hat 2015 den vierten Platz beim Tchaikovsky Wettbewerb in Moskau, zudem auch den Spezialpreis der Kritiker und einen Publikumspreis eingeheimst, der andere, Martin Mirabel, entschied sich, Filmemacher zu werden.
Die Geschichte dieses so ungewöhnlichen Filmdokuments über die himmelstürmende romantische Seele junger Künstler, ihre Freundschaft und Seelenverwandtschaft, die Unbedingtheit und das Naturschauspiel der stets überfließenden Emotionen des in die große Medienwelt geworfenen Lucas Debargue, begann im Juli 2015 im Zug nach Juan-les-Pins. Rena Shereshevskaya, russische Pianistin und Klavierpädagogin aserbaidschanischer Herkunft, erwartete schon ihren Schüler und Schützling.
Die gemeinsame Reise der beiden kann starten, die Kamera stets im Anschlag. Martin Mirabel filmt Lucas Debargue mit seinen schmal-schwarz gerandeten Brillen, mal mehr mal weniger Schnauzer und Ziegenbärtchen und ungebändigten dunklen Locken in Moskau, Chicago, Weimar, Berlin, Compiègne, Beauvais und Salerno. Die Filmarbeiten spannen sich über den Zeitraum Oktober 2015 bis Jänner 2017. Es ist Mirabels erster Film in einem internationalen Umfeld, sein erster Einstieg in die professionelle Welt des Celluloid. Und es ist nichts weniger als ein Meisterwerk geworden.
Für Lucas Debargue beginnt die Initiation vom unbeschwerten musikalischen Spintisierer, der nächtelang zigarettenrauchend und das Weinglas in der Hand Musik hört, der beim Proben im Kämmerchen alles, aber auch alles versuchen darf. Wir dürfen mitverfolgen, wie Debargue von den Anfängen ganz ohne die Zwänge eines Orchesters, den engen Zeitplänen des Konzertbetriebs, den Ansprüchen eines fordernden Publikums, das Fotos und noch mehr Fotos und Autogramme will, hin zu einem reifen Profi, zu einem die Kunst mit der Realität versöhnenden Erwachsenen wird. Noch ist es aber nicht so weit.
Lucas Debargue kämpft mit Haut und Haar um seine Freiheiten, sein „keine Kompromisse“ schließendes Künstlertum. Debargue geht beim Spiel bis an (O-Ton) „die Grenzen des Erträglichen, des Deliriums. In der Konzertsituation bin ich umhüllt von Musik in größter Fragilität. Wenn ich so im Leben wäre, müsste ich sterben.“ Er hat aber das Glück, in der Russin Rena Shereshevskaya eine Artistin der Sonderklasse als Lehrerin und Beraterin, aber auch eine Verbündete zu haben, die so manchen Schmerz im Keim erstickt, indem sie ihm erlaubt so zu sein, wie er ist. Die Umarmung, der Stolz und ihr Lob nach dem Konzert sind wohl sein größtes Glück.
Alleine die feinfühlige, aber nichts beschönigende Kameraführung mit vielen Nahaufnahmen macht diese „Doku“ unglaublich wertvoll und hebt sie hoch über die Unzahl an Künstlerdokumentationen, die alleine den Gesetzen des Marketing gehorchen. Dem engen freundschaftlichen Verhältnis und absoluten künstlerischen Vertrauen des Pianisten zu seinem Filmer ist es zu danken, dass der Zuseher Zeuge der ersten Schritte einer Weltkarriere wird, ungeschminkt, entwaffnend ehrlich und ohne jegliches PR-Getue. Die Proben zeigen einen Künstler, der um sein Innerstes ringt, die Mimik erzählt, wie er verzweifelt, aber nicht immer sofort erfolgreich versucht, seinen ganzen Seelenabdruck in die Partitur zu packen.
Noch stehen Naivität, Unerfahrenheit, der ängstliche, aber weltumfassende Anspruch auf künstlerische Integrität im Vordergrund. Der so flüchtige Augenblick höchster künstlerischer Wahrheit ist ebenso berührend zu erfahren wie intimste Momente eines begnadeten Musikers, der über sich selbst in Noten aber auch in Worten improvisiert. Franzosen lieben es zu reden (ich selbst habe sieben Jahre in Paris gearbeitet) und das (Da)Sein wortreich zu feiern. Auch Debargue offenbart uns seine Gedanken und Ideen, scheinbar nicht nach einem Drehbuch gedrechselt, sondern spontan und offen.
Im Konzert spielt Debargue eruptiv und rauschhaft. Dramatische Phrasen heben ihn wortwörtlich vom Hocker. Es gibt Pianisten mit ausgefeilterer Anschlagstechnik und dynamisch kunstvoller gedrechselter Detailarbeit. Debargue liebt es bei Proben nicht, stundenlang an bestimmten Phrasen zu arbeiten, sie hunderte Male zu wiederholen. Er spielt die Werke vielmehr von vorne bis zum Schluss durch. Das gibt seinen Auftritten und CDs solch eine Geschlossenheit und inneren Bogen.
Für Rena Shereshevskaya ist Debargue „das Geschenk des Himmels auch für alle Schüler, die es nicht geschafft haben, oder wie die Franzosen so schön sagen „la cerise sur le gateau.“
Der Film zeigt Debargue in seinen verschiedenen Talenten, also auch als Kammermusiker und Komponisten. Beziehungsmensch durch und durch, zählen die mit seinen Triopartnern David Castro-Balbi (Violine) und Alexandre Castro-Balbi (Cello) – beide Musiker der Staatskapelle Weimar – aufgenommenen Passagen zu den mitreißendensten des Films. Wie die drei bei der Erprobung einer Eigenkomposition von Debargue improvisieren, scherzen, lachen und wieder mit heiliger Hingabe in ihr Tun versinken, darf auch als filmisches Meisterstück gelten.
Debargue, die Bierflasche in der einen und eine Zigarette in der anderen Hand spaziert durch nächtliche Stadtlandschaften. Wir glauben ihm, wenn er nur die Musik in sich als Ziel seines Strebens und als seine wahre Muttersprache sieht, nicht Ruhm, noch Glanz und Gloria einer Karriere.
Wir begleiten Debargue in einem Chicagoer Club, wo er mit einem Schlagzeuger Jazz „ohne Ideen“ musiziert. Der schon ergraute Jazzer fragt nach dem Alter von Lucas (25) und sagt, er hätte Schuhe, die älter sind als er. Fast durchs Schlüsselloch ist Debargue beim Komponieren zu sehen, Notenblätter wild auf dem Tisch verstreut, den Bleistift in der Hand singt er sich selbst vor, was er notiert.
„To Music“ ist mehr als nur das Porträt eines Künstlers durch die Brille eines ebenso musikkundigen und jungen Regisseurs, es ist ein Hymnus an das, was Musik vermag. Debargue will Musik schreiben, die verständlich ist, die zu allen in der Welt spricht. Das Humanistische und Mit-Teilende steht stets im Vordergrund seines Spiels. In stillen Stunden denkt Debargue über das Aufhören nach, der Regisseur meint aus dem Off, das wäre ein gutes Ende für den Film, aber der Film ist nicht das Leben und das Leben geht weiter.
Anmerkung: Als Bonus sind eine Improvisation über Duke Ellington‘s Caravan, gefilmt am 25.8.2016 beim Ravinia Festival, Illinois, USA und Ausschnitte aus der Klaviersonate in F-Moll, Op. 5, von Nikolai Medtner, aufgenommen am 17.6.2016 im Fomenko Theater in Moskau, zu sehen.
Große uneingeschränkte Empfehlung!
Lucas Debargue – To Music
Dokumentarfilm von Martin Mirabel
Blu-Ray DVD, Naxos Deutschland Musik & Video Vertriebs-GmbH / Poing
Laufzeit: 111 Min.
Tonformat: stereo / Bild: 16:9 (HD)
Untertitel: Französisch, Englisch, Deutsch, Japanisch, Koreanisch
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