Von Ingobert Waltenberger.
„Wir wagen es, unser Rheingold zurückzuerobern, wenn auch zunächst in einer kleineren und damit der aktuell möglichen Form! Am 12. Juni um 19.30 Uhr laden wir Sie zu einer halbszenischen 110-minütigen Fassung des Werks auf das Parkdeck der Deutschen Oper Berlin ein, die auf der Basis einer Kammerfassung des britischen Komponisten Jonathan Dove mit 22 Musiker*innen und 12 Sänger*innen erarbeitet wird. Die musikalische Leitung liegt in den Händen von Generalmusikdirektor Donald Runnicles, die szenische Einrichtung übernimmt Nell Barry Moss. Mit Derek Welton (Wotan), Padraic Rowan (Donner), Thomas Blondelle (Loge), Philipp Jekal (Alberich), Andrew Harris (Fasolt), Tobias Kehrer (Fafner), Annika Schlicht (Fricka), Flurina Stucki (Freia), Judit Kutasi (Erda), Elena Tsallagova (Woglinde), Irene Roberts (Wellgunde) und Karis Tucker (Floßhilde).“ Soweit die Ankündigung vor der ersten (halb)szenischen Opernaufführung in Berlin (Deutschland?) nach dem Corona-Lockdown.
Eigentlich war ja an diesem Abend die Premiere von Richard Wagners „Rheingold“ als Auftakt einer neuen Tetralogie im Haus an der Bismarckstraße unter der Regie von Stefan Herheim geplant. Die musste Corona-bedingt verschoben werden. Also wurde nach Machbarem (gelegentlich wird ja die Politik als die Kunst des Möglichen bezeichnet, der Urheber des Zitats soll ja niemand Geringerer als Bismarck gewesen sein) gesucht. Fündig geworden ist man beim britischen Komponisten Jonathan Dove, der unter dem Titel „The Ring Saga“ 1990 eine in jeder Hinsicht reduzierte 10 Stunden-Fassung des Rings mit dem Ziel erstellt hat, Wagners Tetralogie auch für kleinere Spielorte und Festivals aufführbar zu machen. Für das „Rheingold” bedeutet das kompakte 110 statt 150 Minuten Spielzeit, ein auf ein Viertel eingekochtes Kammerorchester, 12 statt 14 Solisten. Die Rollen des Mime und des Froh fehlen ganz.
Das passt natürlich gut zu der biedermeierlichen Verkleinerung des Kunstbetriebs, wie sie derzeit statthat. Dennoch wirkt die Besetzung des Orchesters mit nur solistisch besetzten Streichern (ein Streichquintett steht einer Gruppe von mehr als 15 Bläsern gegenüber) unausgewogen. Insgesamt geht der Instrumentalpart im Glanz der Stimmen bisweilen ziemlich unter. Also keine Gänsehaut, weder beim Abstieg in Alberichs Goldmine noch beim Einzug der Götter in Walhalls Burg am Schluss.
Auf der anderen Seite bieten natürlich ungewöhnliche Spielstätten wie ein Parkplatz in einem zwischen Gefängnis- und Industriehinterhof wirkenden Carré die Gelegenheit, eine bekannte Oper neu zu entdecken, bzw. eine Art von schräger Festival-Atmosphäre zu schaffen. Schon einmal diente das Parkdeck der Deutschen Oper Berlin als Aufführungsort, und zwar 2014 für eine szenische Produktion von Iannis Xenakis’ „Oresteia.“
Die halbszenische Produktion erinnert ein wenig an eine Studentenabschlussklasse an einer Musikuni, wo wegen Geldmangels auf den hintersten Fundus eines Theaters zurückgegriffen werden muss. Und dennoch wartet die szenische Einrichtung durch Nell Barry Moss mit viel Witz, guter Personenregie (die unaufgeregt immer auch das Abstandsgebot im Auge hatte) und einem Nutzen des gesamten Raums bis zu einem Fenster in dritten Stock der Werkstätten auf, wo Alberich sein Gezeter vom Stapel lassen darf. Wenn man dazu bedenkt, dass erst 10 Tage vor der Premiere die behördliche Genehmigung erfolgt ist, Hut ab!
Künstlerisch ist es der Abend des Ensembles. Die Deutsche Oper Berlin kann so aus dem Stand heraus aus eigenen Kräften ein “Rheingold” besetzen, wie es auch den Bayreuther Festspielen voll zur Ehre gereichen würde. Besonders hervorheben möchte ich den großartigen Wotan des Derek Welton, ein luxuriös timbrierter junger Heldenbariton der Extraklasse, der als Spielleiter und Gott zugleich zeigt, wie man Komödiantisches und Heroisches durchaus auf einen Nenner bringen kann. Nicht minder eindrucksvoll als Theatervollblut mit begnadetem Tenor ist Thomas Blondelle als Loge. Wie dieser Sänger auf ganz natürliche Weise den Raum mit einer bis in die kleinste Fingerspitze sitzenden Charakterstudie füllt, ist ereignishaft. Als dritte im exklusiven Bunde ist Annika Schlicht als Fricka zu erwähnen. Die junge Mezzosopranistin klingt so schön und aufregend wie Elisabeth Kulman und Joyce DiDonato zusammen. Hoffentlich merkt das bald irgendwer in der Tonträgerindustrie.
Ein unglaublicher Luxus ist auch die Besetzung der drei Rheintöchter mit Elena Tsallagova, Irene Roberts und Karis Tucker. Von Moskau über Wien bis an die MET gingen die drei als edles Trio durch. Der Rest der Besetzung ist mit vollem Einsatz am Werk und wird am Schluss ebenso in den Jubel mit einbezogen.
Routinier Donald Runnicles leitet das kleine (allzu kleine) Orchester, eine besondere Spannung will sich mangels dichten Klangs nicht einstellen.
Zu einer Freiluftaufführung gehört auch, dass Flugzeuge, Vögelchen und Polizeifolgetonhörner so hie und da ihren Senf dazugeben. Auf der atmosphärischen Habenseite steht, dass die Balkone im der Bühne gegenüberliegenden Hochhaus voll von Leuten sind, die wahrscheinlich noch nie einen Fuß in ein Opernhaus gesetzt haben und am Schluss begeistert mit applaudieren.
Der Einlass ist bestens organisiert. Natürlich ist gewöhnungsbedürftig, dass nach einem besetzten Sitzplatz drei in weiß gehüllte Plätze leer bleiben, dafür gibt es eine Beinfreiheit, die grandios bequem ist.
Als mehr oder weniger improvisierte Übung ist die Aufführung voll gelungen und vor allem sängerisch untadelig. Der doch zu dünne Klang des Kammerorchesters hat mich persönlich enttäuscht.
Anmerkung: Die Vorstellungen verfolgen ein „Pay what you want“-Konzept, d.h. zur Sicherung der Plätze sind die Besucher eingeladen, sich online, telefonisch oder an der Tageskasse gegen eine Schutzgebühr von 5,00 € einen oder zwei Plätze zu buchen. Gleichzeitig werden die Gäste im Vorfeld darauf hingewiesen, dass um Beiträge nach der Vorstellung gebeten wird. Die Karten sind ab Freitag, 5. Juni um 12 Uhr buchbar. Die nächsten Vorstellungen finden am 16., 18., 19., 20., und 21. Juni statt (und sind leider schon ausverkauft).
Hinweis: Männer, Mythen, Märchen – Ein Konzertfilm mit Musiker*innen des Orchesters der Deutschen Oper Berlin. Die halbszenische Aufführung vom „Rheingold“ auf dem Parkdeck ist auch der Anknüpfungspunkt für ein Projekt von Musiker*innen des Orchesters der Deutschen Oper Berlin: Einen ca. 50-minütigen Konzertfilm zum Thema „Männer, Mythen, Märchen“, der ein ursprünglich live im Rahmen der „Tischlereikonzerte“ geplantes Programm auf diese Weise einem größeren Publikum zugänglich macht. Mit filmischen Mitteln wird die Stimmung der einzelnen Werke eingefangen und auf diese Weise eine Konzentration geschaffen, die dem Live-Konzerterlebnis möglichst nahekommt. So wie die Werke von Robert Schumann („Auf dem Rheine“, „Belsazzar“), Karol Szymanowski („Mythen“) und Georg Philip Telemann („Zwölf heroische Märsche“) unterschiedliche Themen und Motive berühren, die alle in Wagners Der Ring des Nibelungen von zentraler Bedeutung sind, nimmt der Film den Zuschauer mit auf eine märchenhafte musikalische Reise und bevölkert die Tischlerei mit Nymphen, Zwergen, Göttern und Helden. Den Abschluss des Programms bildet eine direkte Hommage an Wagner: Eine „Rheingold-Phantasmagorie“ des Arrangeurs Douglas Brown für Kammerensemble und Sprecher, in der Briefe Wagners mit Passagen aus dem Rheingold verwoben werden. Der Konzertfilm wird ab dem 22. Juni auf der Website der Deutschen Oper Berlin gezeigt.
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