Von Birgit Koß.
Die Romane von Kim Thúy ähneln der Autorin. Sie sind klein und zart auf der einen Seite und gleichzeitig überaus kraftvoll, dynamisch und voller Poesie. Kim Thúy, die mit zehn Jahren als „boatpeople“ aus Saigon mit ihrer Familie floh und schließlich nach Kanada gelangte, lebt in Montreal. Sie arbeitete als Dolmetscherin, Rechtsanwältin und Gastronomin. 2010 wurde ihr auf Anhieb erfolgreiches Debüt „Der Klang der Fremde“ ins Deutsche übersetzt. Seither sind ihre drei weiteren Romane und ein wunderschön bebildertes und mit erläuternden Texten versehenes Kochbuch „Das Geheimnis der vietnamesischen Küche“ im Antje Kunstmann Verlag erschienen. Alle ihre Bücher sind autobiographisch geprägt und gehen doch weit darüber hinaus.
Ihr jüngster Roman „Großer Bruder, kleine Schwester“ wurde inspiriert von der Operation „babylift“, bei der 1975 – zum Ende des Vietnamkrieges – elternlose Kinder aus Saigon ins Ausland geflogen wurden. In knappen, atmosphärisch dichten Bildern beschreibt die Autorin das Leben unterschiedlicher Kinder, deren Mütter Vietnamesinnen sind, während die Väter als Kolonisatoren oder GIs ins Land kamen. Sie erzählt, dass diese Beziehungen einerseits von Gewalt geprägt sind, aber auch von Liebe, der jedoch keine Dauer vergönnt ist. Auf nur zwei bis drei Seiten lässt Kim Thúy auf ihre unvergleichliche Art eindrückliche, sehr dichte Bilder von dem entbehrungsreichen Leben auf einer Kautschukplantage, von Untergrund und Widerstand, von Straßen- und Waisenkindern und dem unsäglichen Massaker von My Lai entstehen.
„Tâm war abends als Kind eingeschlafen und morgens ohne Familie aufgewacht. Statt Lachen hörte sie nur das Schweigen jener, denen die Zunge herausgeschnitten worden war. Und beim Anblick der skalpierten Schädel hatten sich ihre langen Mädchenzöpfe binnen vier Stunden aufgelöst.“
Doch trotz des Grauens des Krieges geht das Leben für die Kinder weiter. Sie entwickeln teilweise unglaubliche Fähigkeiten, sich anzupassen, um zu überleben.
„Da Louis stets mit einem Ohr am Boden schlief, hörte er alle Bewegungen der Polizisten, Botschafter, Führungskräfte und Geheimdienstagenten, aber auch die nackten Füße der Rebellen.“
Viele der Kinder, die durch den „babylift“ 1975 ins Ausland gelangten und dort adoptiert wurden, erwiesen sich als überaus erfolgreich. Sie wurden Anwälte und Wissenschaftler, eröffneten zahlreiche Restaurants oder weltweit Nagelstudios. Ein zumindest in der Anfangszeit nicht ungefährliches Unternehmen, wie die Autorin auf ihre knappe, lakonische Art zeigt.
„Wie die Gummibäume auf der Plantage ihres Vaters Alexandre starb Tâm an den Regenbogenherbiziden, die in ihrer Kindheit über Vietnam versprüht wurden. Oder vielleicht auch am Nagellack, wie ihr Onkologe vermutete.“
Ein weiteres Mal erzählt Kim Thúy in vielen Facetten vom Leiden ihres Volkes als Spielball internationaler Mächte, legt den Finger in die Wunde, ohne zu jammern. Ihre Botschaft könnte lauten: Das Leid darf nicht vergessen werden, aber das Leben geht weiter und die Liebe findet – zum Glück- immer wieder ihren Weg.
Wie immer ist der Roman ästhetisch und liebevoll durch den Verlag Antje Kunstmann gestaltet worden. Auf der diesjährigen, gerade erst abgesagten, Leipziger Buchmesse hätte die Verlegerin für ihr Engagement mit dem Kurt-Wolff- Preis ausgezeichnet werden sollen. In der Begründung der Jury heißt es unter anderem, dass beim Antje Kunstmann Verlag „Illustrationen Hauptdarsteller“ sind.*
In „Großer Bruder, kleine Schwester“ zieht sich eine Zeichnung des Malers Louis Boudreault durch das Buch. Aus einer zart angedeuteten Kiste am Anfang des Romans kommen viele dünne, verschlungene Fäden, die einzelne Kapitel begleiten. In einem „Utopischen Gespräch“ zwischen dem Maler und der Autorin heißt es
Kim: All diese Lebensfäden in den Zeitläufen
All diese geduldig weitergesponnenen Fäden, auf denen
All deine Fäden
Louis Boudreault: Die Schachtel sieht aus, als ob sie sich durch den
kann nichts sie zerstören…
Und sie hat standgehalten.
*Die Auszeichnung des Antje Kunstmann Verlags mit dem Kurt Wolff Preis für unabhängige Literatur wird am 18. März 2022, 13 Uhr, im Gohliser Schlösschen im Rahmen von „Leipzig liest“ vergeben. Die Teilnahme ist kostenfrei, aber eine Anmeldung ist erforderlich. Alle Informationen zur Preisverleihung hier.
Kim Thúy
Großer Bruder, kleine Schwester
Aus dem Französischen von Brigitte Große
Antje Kunstmann Verlag, München 2021
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