Von sinnlicher Renaissance Polyphonie bis hin zu einem kalt mahnenden Maschinensound. Rezension von Ingobert Waltenberger.
Spirituell durchwirkter, perkussiv-repetitiver Minimalismus mit rituell eindringlichen Vocals und Anleihen aus der reich bestückten musikhistorischen Schatztruhe. Nicht reizlos, zugegeben. Wer die poetische Resonanz-Artisterie dieses „Destillats vieler Einflüsse und Obsessionen“ mag, wird auch dieses Album lieben. Das Plattencover ziert ein goldener Scarabaeus sacer, dessen an Drohnengeräusche gemahnendes Brummen und Surren vielleicht an die biblischen zehn Plagen der Heuschreckenschwärme erinnern soll, die das Land bedecken und alles Grün fressen. Auf jeden Fall wirkt etwa der sechste Satz „The Low Drone of Circulating Blood, Diminishing With Time“ unheimlich prophetisch mit all den alarmierenden Sirenengeräuschen, einer in der Luft liegenden Bedrohung aus Eisen und Stahl, einer diffusen Unruhe und Nervosität.
Öffentlichkeitswirksam 2015 im New Yorker Metropolitan Museum of Art vor dem berühmten ägyptischen Dendur-Tempel mit dem Vokalensemble Roomful of Teeth und dem Komponisten selbst am Elektronikpult uraufgeführt, stammt die vorliegende Aufnahme der Messe vom Mai 2019 aus der Garnisonskirken in Kopenhagen.
Für das American Contemporary Music Ensemble (ACME) zu seinem 10-jährigen Jubiläum geschrieben, steht am Anfang die Idee und Jóhannssons Begeisterung für den Bordun. Ein solcher „Brummbass“, der etwa im Vorspiel zu Wagners „Rheingold“ oder ‚Im Alten Schloss‘ aus den „Bildern einer Ausstellung“ vorkommt, stellt einen tiefen Halteton zu einer Melodie dar. Diese grundlegende Vibration, die „die Musik verankert und ihr als Fundament“ dient, ist in der DroneMass mal lauter, mal leiser, flirrt, surrt und rauscht im Untergrund dahin.
Die Drohnen, deren akustische Signatur die Messe ihren Namen verdankt, patrouillieren unseren Himmel. Sei es als mit Kamera ausgestattete Lieferanten perspektivisch spektakulärer Fotos unserer Erde, sei es als präzises unbemanntes Kriegsgerät, sei es als wissenschaftliches Instrument etwa in der Klimaforschung.
Viele Fragen werden gestellt, Rätsel aufgeworfen, die teils ins Nichts gehen oder auf die wir keine Antwort wissen. Nicht immer ist ihr Ziel klar, aber doch ihr Sinn: Uns selbst, unseren Ursprung, unser Wollen und Tun zu hinterfragen und die Menschheit einmal mehr als eine in ihrem innersten Wesen sterbliche an ihre Endlichkeit zu erinnern.
Das Werk kann zudem als Übung in Sachen „Apophänie“ verstanden werden, zumindest wenn die Sichtweise des Autors aufgegriffen wird. Darunter versteht man die Wahrnehmung scheinbarer Muster und Beziehungen in zufälligen Konstellationen, wie den von Jóhannsson verwendeten, aus sich heraus eigentlich bedeutungslosen Reihen von Vokalen. Folglich könnte der Hörer auf den subjektiv poetischen Durchdringungen des Seins-Nebeneinanders wandeln oder eine Jagd nach Wiedererkennung schon musikhistorisch vertrauter Klänge betreiben.
Inhaltlich ist die Komposition am einen Ende von frühchristlichen Papyrus-Handschriften inspiriert, die im Dorf Nag Hammadi gefunden wurden. Sie stehen im Kontrast zu den verzerrten Realitäten im digitalen Zeitalter genauso wie die Polyphonie der Renaissance zu den verfremdenden Effekten der Ableton-Software, mit der musikalische Ideen beliebig entwickelt werden können. In Wahrheit aber stellt der Bezug zu dieser ägyptisch-christlichen Gnosis eine unnötige Bedeutungs-Überfrachtung der so zwischen Minimalismus etwa eines Steve Reich, den Geräuschemiasmen eines Stockhausen und den Vokalgirlanden oszillierenden Werks dar, zumal vom englischsprachigen Text wegen der exzessiv auf Vokalen gehaltenen Gesangslinien ohnedies kein Wort zu verstehen ist.
Eine sanft bis aufrüttelnde kinetische Energie ist es, die in diesem strukturell so gar nicht einer Messe ähnlichem Stück manifestiert, das sich für die Cellistin Clarice Jensen, künstlerische Leiterin des ACME, im Sinne einer schwebenden Zeitempfindung eher als „Holy Minimalism“ anfühlt. Auf jeden Fall bleiben auch die semantischen Konnotationen uneindeutig, wie ja auch die verschiedenen Bedeutungen der Wörter „drone„ und „mass“ nahelegen.
Am Ende ist es aber jenseits aller Theorie Jóhannssons „DroneMass“ Musik, die uns anregen, bewegen oder (auf)reizen soll. Die vokale Umsetzung des neunteiligen Stücks ist dem amerikanischen Ensemble „Theatre of Voices“ (hier kommen acht Stimmen zum Einsatz), von Paul Hillier 1990 gegründet und auf Alte und zeitgenössische Musik spezialisiert, anvertraut. Ihr lupenreiner, vibratoarmer, ätherisch schöner Gesang ist es, der die CD/LP in den Rang des Außergewöhnlichen hebt. Pur Polyphones mischt sich mit den Techniken des tibetanischen Obertongesangs, Belting-Techniken (Anm.: durch spezielle Vokal- und Registermischung wird ein hämmernder Effekt erzielt) mit schillernden Vokalfarben. Im dritten Satz steigern sich maschinelles Rauschen und Chor zu einer Spirale psychedelischer Cluster, zu denen sich eine Violine in gleichbleibenden Figuren gesellt. In „To Fold &Remain Dormant“ bilden gespenstische Geräusche von Propellern den bassus continuo einer Gemütslage, die sich nun leider jeden Tag durch den nahen Schlachtenlärm manifestiert. Von Streichern imitierte Folgetonhörner, über die sich ein schlichtes Lied stülpt. Ein kurzer Trost, bevor der Chor in feierlichem Schritt vorüberzieht. Erst am Ende gönnt uns Jóhannsson in „The Mountain View, The Majesty Of The Snow-Clad Peaks, From A Place Of Contemplation And Reflection“ so etwas wie eine kurze Pause mit kulinarisch bis ekstatischen Tönen, die der Bezug zur Pracht der Renaissancemusik nahelegt.
Per aspera ad astra: Die Satzfolge 1. One Is True, 2. Two Is Apocryphal, 3. Triptych In Mass, 4. To Fold & Remain Dormant, 5. Divine Objects, 6. The Low Drone Of Circulating Blood, Diminishes With Time, 7. Moral Vacuums, 8. Take The Night Air und 9. The Mountain View, The Majesty Of The Snow-Clad Peaks, From A Place Of Contemplation And Reflection“.
Fazit: Ein in der schöpferischen Eigenlogik des Jóhannsson intensiv und gnadenlos hellsichtig gearbeitetes Opus. Eine Messe oder Oratorium im herkömmlichen Sinn ist Drone Mass sicher nicht. Die musikalische Umsetzung besonders durch das „Theatre of Voices“ ist schlichtweg phänomenal. Von der semantischen Bedeutungsschwere her entspricht die Musik nur teils den selbst gestellten Ansprüchen. Insbesondere der gewollte Bezug zur ägyptisch-frühchristlichen Mystik stellt sich akustisch nicht dar. Dennoch ein faszinierendes Werk eines großen künstlerischen Geistes.
Jóhann Jóhannsson starb am 9. Februar 2018 im Alter von 48 Jahren in Berlin.
Drone Mass
Jóhann Jóhannsson
Theatre of Voices, Paul Hillier & American Contemporary Music Ensemble
CD / Vinyl
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