Entschwunden ins Land der Zauberlieder oder Wilhelm Meisters wunderliche Reise durch das Land der Utopie. Von Barbara Röder.
An der Opéra Royal de Wallonie-Liège erstrahlt das sehr selten aufgeführte Opernjuwel „Mignon“ von Ambroise Thomas in der herrlichsten Couleur. Szenisch, musikalisch und musikhistorisch ist den Machern, dem Regisseur Vincent Bussard,dem Dirigenten Frédéric Chaslin und einer herausragenden Sängeréquipe ein bedeutender Wurf gelungen. Die Opéra Royal de Wallonie-Liège katapultiert sich mit dieser Produktion wieder weiter an die Spitze der führenden europäischen Opernhäuser. Hier werden kulturelle Tradition, Aufbrüche in Unbekanntes, Neues und Altes dicht miteinander verwoben. Dies spürt, erlebt das internationale sowie das heimische, mitunter sehr junge Publikum in einem Opernhaus, das als Credo „Kultur für Alle“ für sich beanspruchen kann.
Regisseur Vincent Bussard zeigt uns in seiner kunstvoll durchdachten Inszenierung diverse Zeitalter der „Mignon“-Rezeption. Der Grundton seiner Idee ist, das schlägt sich auch im Bühnenbild von Vincent Lemaire nieder, Musiktheaterszenerien auf dem Theater und im Theater zu zeigen. Deshalb sind in den Hintergrund der Bühne des weiten Illusionstheaters in Liège, die Logen der Pariser Opéra-Comique gebannt. Dort erfuhr der Dreiakter „Mignon“ von Amboise Thomas am 17. November 1866 seine musiktheatralische Geburt. Andere französische Goethe-Vertonungen wie Hector Berliozʼ „Damnation de Faust“, Charles Gounods „Faust“ oder Jules Massenets „Werther“ beflügelten viele Dichter, Komponisten und Librettisten. Das befeuerte eine regelrechte Goethe-Renaissance. „Romantische“ Sujets lasen die Zeitgenossen Victor Hugos und Emil Zolas gerne ins Werk Goethes oder in die Dramen Shakespeares hinein. Das Romantisieren klassischer Stoffe galt im ernsten, streng bürgerlichen Deutschland damals als grober Affront. In Frankreich liebte man die Idee von Novalis: „Die Welt muß romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder“.
Nun, die beiden Librettisten der „Mignon“ Jules Barbier und Michel Carré schwammen erst einmal auf der Welle des Erfolgs ihres Kassenschlagers. Dann mussten sie sich aber dem Geschmack des Pariser Publikums beugen. Ein glücklicher Schluss für „Mignon“ musste her, nachgeliefert werden. „Als erfahrene Bühnen-Praktiker, die wir waren, mussten wir einsehen, dass uns der Tod Mignons sieben bis 800 Aufführungen kosten würde! Also ließen wir die beiden lieber als braves Bürgerpaar heiraten, mit Aussicht auf zahlreiche Nachkommenschaft.“ so Barbier und Carré. Das war ein No-Go für die deutschen Goethe-Puristen. Die unterhaltungssüchtigen Pariser hielten ihrer „Mignon“ die Treue. Sie wurde neben seiner Oper „Hamlet“ zu einer der erfolgreichsten Opern ihrer Zeit. 1894 feierte sie ihre 1.000. Aufführung allein an der Pariser Opéra-Comique. Heutzutage ist sie kaum auf den deutschen oder französischen Spielplänen zu finden. Der „Hamlet“ wird gerade auf den französischen Bühnen wiederentdeckt.
Vincent Bussard und sein Team beschwören den Ursprung des großen Bildung- und Erziehungsromans „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ (1795/96) und finden dabei gültige, bis in unser Jahrhundert reichende Bilder.
Bussard, ein kluger Regisseur, mag wohl bei seiner Konzeption Friedrich Schillers erste Reaktion auf Goethes „Wilhelm Meister“ Roman, welchem die Geschichte der Kindfrau Mignon entnommen ist, im Gedächtnis gehabt haben. Schiller schreibt im Januar 1795 an seinen Dichterfreund Goethe: „Dort ist alles so heiter, so lebendig, so harmonisch aufgelöst und menschlich wahr. So viel ist gewiß, dass der Ernst in dem Roman nur Spiel und das Spiel in demselben der wahre und eigentliche Ernst ist, dass der Schmerz, der Schein und die Ruhe die einzige Realität ist. Ruhig, tief und klar und doch unbegreiflich wie die Natur“. Viele dieser ersten Eindrücke wehen herüber, wenn Wilhelm Meister ein suchender Poet, ein in die Künste, Theaterkünste vernarrter Bürgerlicher die Bühne betritt. Es scheint ein bisschen, als blicke der Zuschauer durch die Augen Wilhelm Meisters in das Faszinosum „Theaterwelt“. Goethes brennende Leidenschaft fürs Theater kennen wir. Der Dichterfürst lebte sie bereits in seinen Frankfurt Jugendjahren mit seinem Puppentheater auf dem Dachboden aus. Später inszenierte er in Weimar gerne selbst Stücke.
Weiße, leuchtende Rahmen, die sich verschieben, kennzeichnen die Schauplätze und Epochen „Mignon“. Graue Gazevorhänge teilen die Szenerie, geben dem Ganzen etwas indifferent Magisches. Vor dem Pariser Logenvorhang ist die Bühne vertieft und mit Stühlen ausstaffiert. Dort ist ein Wirtshaus verortet. Davor zu uns gerichtet findet die Aufführung der Schaustellertruppe Jargons (Roger Joakim) statt. In der Schänke sitzt der, in schwarze, sehr dekorative Biedermeierkostüme gehüllte, wohlklingende Chor. (Denis Segond, Chorleitung). Die Damen tragen übergroße, der Pariser Mode nachempfundene, elegante Mantillen, Kiepenhüte und Schals. Wir bewegen uns in der Zeit der Uraufführung, 1866. Die Wandertruppe ist in die Epoche von „Les Miserables“ und „David Copperfield“ getaucht. Ein Lob gilt der detailgenauen Kostümzauberin Clara Peluffo Valentini.
Bis zum Bühnenrand hin findet vor unser Augen und Ohren eine Doppelvorstellung statt. Wilhelm Meister, ein junger, reicher und freier Bürgersohn begegnet der von Jargon versklavten Mignon. Sie muss fürs Publikum und dessen Beutel tanzen. Meister kauft sie frei. Mignon verliert ihr Herz, ihre Seele an ihn, ihren Retter. Stéphanie d‘Oustrac gibt diese, zuerst sehr scheue, dann als Frau aufblühende Mignon in herrlichster subtiler Mezzocantabilität. Dem makellos intonierenden, Sehnsucht schluchzendes Lied: „Connais-tu le pays?“, „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn? Im dunklen Laub die Goldorangen glühn?“ verleiht d’Oustrac zarte Innerlichkeit. Ihre Figur ist in verschiedene, typische Hosenrollen gekleidet: in Mozarts Cherubino, oder die des Rosenkavaliers. Dies scheint eine Verbeugung Bussards vor diese markante, durch alle Jahrhunderte wirkende Theater-Kunstfigur zu sein.
Philippe Talbot kreiert seinen Wilhelm Meister als melancholisch, poetisch Suchenden. Er kommt in seiner Verklärtheit dem Hoffmann von Jaques Offenbach sehr nahe. Mit feinem Gespür und klarer Intonation singt Talbot Meisters bekanntes Liebes- und Abschiedslied „ Adieu, Mignon, Courage “. Jean Teitgen verleiht dem Lothario, der sich später als Mignons Vater entpuppt, huldvolle Noblesse. Sein profunder, sehr farbenreicher Bass hätte aber ein wenig zurückhaltender ausfallen können. Geoffrey Degives‘ gibt überzeugend den leicht überdrehten Friedrich, der die kokette, mit allen Raffinessen ausstaffierte Schauspielerin Philine verführen will. Jérémy Duffau hüllt den geschwätzigen Laërte in entsprechende wohltönende Couleur. Die wunderbare Jodie Devos ist der fulminant, spritzig funkelnde Diamant des Abends. Als leicht frivole Philine lässt sie ihre halsbrecherischen Koloraturkaskaden wie Champagner durch ihre Kehle purzeln. Diese Philine ist Jodie Davos auf den Leib geschrieben. Die schauspielerisch illustre Szene, als sie am Cembalo ihr Arie wie ein Zauberkristall markiert, ist unübertroffen. „Je suis Titania“ singt sie als Sommernachtstraum-Titania mit hoher Marie Antoinette Frisur ausstaffiert. Jodie Devos ist eine wahre, eruptive Naturgewalt des Gesangs, die die Herzen eines jeden Publikums betört.
Unter dem rasant kühnen und subtilen Dirigat von Frédéric Chaslin spielt das Orchester der Opéra Royal de Wallonie-Liège, das durch einige Mitglieder aus den Klassen des Konservatoriums von Lüttich verstärkt wurde, mit energiegeladener musikalischer Akkuratesse. Die spannungsvolle, elegische Potpourri- Ouvertüre der „Mignon“ beinhaltet alle kantablen Höhepunkte der Oper. Die traumwandlerischen Soli der Solo-Klarinette, der Solo-Flöte oder des Solo-Horns klingen wie fein ausgelotete Charakterstudien der Figuren auf der Bühne. Die sprudelnd, flirrende Harfe symbolisiert die Schicksalsharfe des Lothario aufs Schönste. Ein klug auskomponierter, romantischer Fingerzeig, der zurück ins Goethezeitalter weist, den Frédéric Chaslin mit feinem Gespür auszugestalten vermag.
Leben, lieben, sterben…
Zum Schluss des Spektakels verbeugen sich alle Protagonisten am Bühnenrand. Wir sind mit ihnen gereist, durch eine fantasievolle Welt, die die Rezeptionsgeschichte der ‚Mignon‘ widerspiegelte. Wir erinnern uns an deren Anbeginn als sie als reines Wunschwesen, weder Knabe noch Mädchen, in Goethes „Wilhelm Meister“ literarisch Gestalt annahm. Wir waren auf einer musikdramatischen Tour durch die Werke vieler Nachgeborenen. „Mignon“ wurde ein Mensch aus Fleisch und Blut. Sie wurde eine von uns.
Alles nur Theater? Dichtung und Wahrheit à la Goethe oder doch à la Amboise Thomas? Beides trifft zu. Denn uns Menschen bleibt das Sehnen, das Wähnen. Oder, wie es in dieser berückenden „Mignon“ Adaption heißt: „Das Leben, das Lieben und das Sterben“. Ein spannendes Opernerlebnis, welches eine Reise zum eigenen Selbst umspannt. Chapeau!
Die Übertragung der Lütticher ‚Mignon‘ ist auf France.tv (Culturebox) bis April 2023 abrufbar.
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