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Mozartwoche Salzburg 2023: Der Frauenheld im Zeitalter des Neopuritanismus

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Nach den Regie-Gräueln am Landestheater und bei den Sommerfestspielen 2021 steht Salzburg tief in der Schuld seines größten Sohnes und von dessen Chef-d’Œuvre. Kann die konzertante Aufführung des Don Giovanni von András Schiff und der gleichnamigen Kapelle die Scharte auswetzen? Von Stephan Reimertz.

Endlich wieder Mozartwoche! Nachdem das von der Stiftung Mozarteum ausgerichtete Festspiel zwei Jahre hintereinander aufgrund der Corona-Pandemie ausfiel, strömen die Musikfreunde nun im traumhaft verschneiten Salzburg wieder zusammen. Als Hauptwerk steht dieses Jahr Don Giovanni mit András Schiff und der nach ihm benannten Capella Andrea Barca auf dem Programm. Allzu zurückhaltend ist die Aufführung in der Fürsterzbischöflichen Sommerreitschule als »halb-szenisch« bezeichnet. Was Bühnenbildner, Beleuchter und Darsteller rund um das in der Mitte der Bühne platzierte Orchester aufführten, kann man indes als voll-szenisch bezeichnen. In der neuen Interaktion von Instrumentalisten, Kapellmeister und Sängern gelang hier die authentische und charmante Version von einem modernen Musiktheater, das zugleich der Spielfreude der Entstehungszeit gerecht wird.

Vom Cembalo aus dirigiert

Sir András Schiff dirigiert stehend vom leicht erhöht gestellten Cembalo aus, dessen Part er lässig-brillant und, wie zur Mozart-Zeit üblich, leicht improvisierend übernimmt. Da darf das kleine Tasteninstrument bei Don Giovannis Eheversprechen an Zerlina ruhig einmal Lohengrins Hochzeitsmarsch anklingen lassen. Allerdings erspart uns Sir András ein totales musikalisches Mashup, mit dem bei der Mozartwoche vor fünf Jahren René Jacobs die gesamte Entführung aus dem Serail durcheinanderwirbelte. Ganz im Gegenteil: Von Schiff, dem reflektierten Musikdenker und bedeutenden Lehrer, erhalten wir auch in diesem Jahr eine diszipliniert durchdachte und vollstreckte Interpretation, die manchem freilich als allzu klassizistisch erscheinen wird. Die neue Salzburger Produktion klingt die meiste Zeit über, als habe Mozart nicht etwa den Don Giovanni von Lorenzo da Ponte von 1787 vertont, sondern den in gestelzten Alexandrinern verfassten Dom Juan von Molière aus dem Jahre 1665, in dem das Stück von Anfang an innewohnende Element der Commedia dell’Arte bedeutend zugunsten eines schweren Klassizismus des siebzehnten Jahrhunderts zurückgedrängt ist. Dabei haben wir es doch bei diesem unzählige Male auf die Bühne gebrachten Stoff mit der Geschichte eines spanischen Draufgängers und Verführers zu tun. In Salzburg fehlen ihm die Cojones.

Musikalische Mangeldurchblutung

Das ist keine Frage der Tempi, sondern der Spannung. Die gehaltene und getragene Version von Sir András kam beim Publikum, dessen Altersdurchschnitt am Premierenabend im Bereich eines Konklaves lag, indes sehr gut an. Der Vorteil einer solchen Herangehensweise liegt auf der Hand: Die Schönheiten der Partitur sind wie in einer musikalischen Studie herausgearbeitet. Nachdem Leporello die Masken einlädt und die Musik in einem der berühmtesten und bestürzendsten Übergängen der Operngeschichte von erwartungsvoller Freude in tiefe Wehmut übergeht, kann die mangelnde Spannung indes dazu führen, dass die grundstürzenden Wechsel nicht ganz so plastisch herausgearbeitet werden. Nun aber stellt sich die Frage aller Fragen: wie die Sänger mit solcher Mangeldurchblutung umgehen.

Weder Grandezza noch Sprezzatura

Wer an die Figur von Mozarts Don Giovanni denkt, der erblickt vor seinem inneren Auge in der Regel das Porträt des portugiesischen Baritons Francisco d’Andrade, das sein Freund Max Slevogt im Jahre 1902 schuf. Hier sehen wir den Verführer ganz in Weiß im brillanten Überschwang der Champagnerarie. Diese Grandezza und Sprezzatura verbindende Haltung machen da Pontes und Mozarts Version dieses Archetyps aus. Allein in einer gemessen, allzu gemessenen, an Gluck und das frühe achtzehnte Jahrhundert herangeführten musikalischen Grundauffassung, wie sie Schiff vorgibt, kann auch ein begnadeter Bariton wie Johannes Kammler aus dem Meister der Verführung in all seinem dämonischen Glanz bestenfalls einen sympathischen, gutaussehenden Frauenhelden machen. Das tut er dann auch ohne Furcht und Tadel und in all der spielerischen Munterkeit, wie sie das ganze Ensemble aus dem Ärmel schüttelt. Stimmlich freilich kann das mattschwarze Organ Kammlers imponieren; seine Stimme umfängt die Rolle mit einer Kraft, die darauf hinweist, dass in einer anderen Grundinterpretation noch weit mehr möglich gewesen wäre.

Der Commendatore als innere Stimme

Nicht minder aus mystischen Urtiefen geht Robert Holl an die Figur des Commendatore heran. Jeder weiß, dass es ein Mann in seiner Jugend mit eifersüchtigen Ehemännern, später im Leben dann mit eifersüchtigen Vätern zu tun bekommt. Mit seinem profunden und differenzierten Bass verleiht Holl diesem Archetyp die ganze bedrohliche Charakteristik der Rächerfigur und verkörpert in der Friedhofsszene hinter dem Orchester nichts anderes als die unheilverkündende Stimme im Innern Don Giovannis selbst. Das ist schon ein sehr intelligenter Sänger-Darsteller. Wie alle anderen Mitwirkenden erfasst Holl intuitiv die ganze Ambiguität dieser uns allen bekannten Gestalt.

Die unüberwindliche Donna Elvira

Sylvia Schwarz als Donna Anna entfaltet den unfassbaren Schmerz der Betrogenen, durch den altertümlichen Klassizismus dieser musikalischen Interpretation freilich um eine ganze, wenn man so will, horizontale, Dimension gesteigert. Magdalena Kožená trägt als Donna Elvira ein Kleid, das wie ein Gemeinschaftsdesign von Piet Mondrian und Oskar Schlemmer wirkt, und ihrer Gewandung gemäß gelingt ihr der Spagat zwischen einer modernen Frauengestalt und einem Archetyp, dessen Ursprung in prähistorische Tiefen reicht. Stimmlich glänzend disponiert und auch das Schrille nicht scheuend, bietet uns Kožená eine musikdramatisch modellhafte Interpretation dieser ambivalenten Frauengestalt, die zwischen der Liebe zu sich selbst und zu dem Unwiderstehlichen hin- und hergerissen bleibt.

Der Kampf zwischen Herrn und Diener

Überhaupt sind die Kostüme in dieser originellen und durchdachten, weit mehr als halb-szenischen Inszenierung unverzichtbarer Teil des Welttheaters. Während der Bassist Maurizio Murano als ebenso geplagter wie seinen Herrn plagender Diener Leporello als einziger stilreines Dixhuitième aufträgt, verbirgt sich Don Giovanni hinter einem Mantel-und-Degen-Umhang, der zwar auf die spanische Herkunft des Stoffes verweist, wenn er als Herr in Hut und Anzug daraus hervortritt, jedoch an Wien um 1900 anklingt. Auch das ist hintergründig gedacht. Arthur Schnitzler mit all seinen Verführern und süßen Mädeln errichtete der Don-Juan-Gestalt so manches Denkmal voller Brüchigkeit, und zu seinem Komödienzyklus Anatol schrieb Hofmannsthal einen Prolog, der die nur untergründige Beziehung Schnitzlers zum achtzehnten Jahrhundert deutlich ausspricht. Ein väterlicher Bass ist es bei Murano, oft auch empört. Man stellt sich die Frage, ob da Ponte den kurz zuvor erschienenen Roman „Jacques le Fataliste“ von Denis Diderot kannte, der es als durchaus nicht ausgemacht erscheinen lässt, wer eigentlich der Herr und wer der Knecht sei. Dieser Kampf bleibt auch in Salzburg deutlich und trug zum szenischen Gelingen des Abends bei.

Don Ottavio, der Vorbildliche

Mit Julian Prégardien tritt ein Don Ottavio ins Rampenlicht, der uns ganz neue Einsichten in diese ebenso bedauernswerte wie bewunderungswürdige Gestalt vermittelt. Prégardien ist einer der engagiertesten Liedsänger unserer Zeit, für den Tonsetzer wie Wolfgang Rihm sogar eigens Lieder komponiert haben. Seine Herkunft aus dem Konzertlied kam in der bedenkenswerten Friedensarie des Ottavio voll und ganz zur Geltung, die er auch dank vorzüglicher Textverständlichkeit an das Kunstlied des neunzehnten Jahrhunderts, ja an den Holden Abendstern heranführte – zumal der Vollmond in Projektion auf den Logen der Reitschule hinter ihm erschien. Die Situation warf die Frage auf, ob Richard Wagner, der den Don Giovanni oft dirigiert hat, beim Abendstern wohl an die Friedensarie gedacht haben mag. Haben wir es doch in beiden Fällen mit der verzichtenden Liebeserklärung eines treuen und zuverlässigen Mannestyps zu tun, der hinter einem Draufgänger zurückstehen muss.

Endlich einmal kein Regietheater!

In der Pause tranken wir mit Salzburger Premierenbekannten jenen Champagner, der der neuen Produktion so sehr fehlt. Doch es herrschte Begeisterung über die Inszenierung vor, die als szenisch völlig ausreichend empfunden und in schmeichelhaften Gegensatz zu dem in die USA der 1950er Jahre versetzten Don Giovanni des Salzburger Landestheaters wie auch zu der abgeschmackten Inszenierung der Festspiele von 2021 gestellt wurde. Was sind das für Zeiten, in denen man froh ist über jede konzertante oder halb-szenische Aufführung einer Oper, weil man von neuen Gräueln des Regietheaters verschont bleibt? Das kann ja der Sinn einer Sache nicht sein, welche sich Musiktheater und Gesamtkunstwerk nennt.

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