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Salzburger Festspiele 2024: “Don Giovanni” von Mozart

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Romeo Castellucci definiert das Gesamtkunstwerk neu. Teodor Currentzis und das Utopia Orchester musizieren das Stück wie zum ersten Mal. Und Nadeschda Pawlowa zeigt uns, warum die Oper eigentlich Donna Anna heißen müsste. Von Stephan Reimertz.

Auch in seinem vierten Jahr hat der von Romeo Castellucci neu aufgezogene Don Giovanni nichts von seiner Frische eingebüßt. Es zeigt sich hier als von Vorteil, wenn Regie, Bühne, Kostüme und Licht in einer Hand liegen. Als Castellucci 1981 ein Theaterkollektiv gründete, benannte er es nach Raffael. Dies zeigt schon, wie tief der Italiener aus der Emilia-Romagna, der sich nicht als Opernregisseur, sondern als Theaterkünstler versteht, in der Kunstgeschichte verwurzelt ist, und wie nachhaltig er sich wiederum in diese einschreiben will. Seine kunsthistorisch begründete und ästhetisch durchgearbeitete Produktion der Oper aller Opern fand in Salzburg gleich in ihrem Premierenjahr 2021 begeisterte Zustimmung, und zurecht ist sie inzwischen zu einem Maßstab für moderne, historisch begründete und ikonographisch legitimierte Inszenierungen geworden.

Oper als frische Klangrede

Denn, offen gestanden: Welcher andere Regisseur wäre heute in der Lage, ein überkomplexes Stück wie Don Giovanni auf einem so hohen intellektuellen Niveau zu durchdringen? Castelluccis Anspruch offenbart sich in dem interessanten Interview im diesmal vorzüglichen Programmheft, und die Inszenierung selbst zeigt uns, wie glanzvoll er ihn eingelöst hat: Dem Problem der im Grunde mozartfeindlichen überbreiten Bühne des Großen Festspielhauses begegnet er, indem er die Not zur Tugend macht und seine Inszenierung in einem großgedachten und strengen Barockklassizismus des siebzehnten Jahrhunderts verankert. Natürlich verweist uns dies auf den Don Giovanni der Mozartwoche 2023 rund um András Schiff und seinen bewusst genossenen, leicht statuarischen Klassizismus. Allein hier brechen stärker die Unterschiede hervor: Während Sir András vom Cembalo aus eine leicht sklerotisierte Version leitete, die eine Meta-Ebene einzog und die man besser »Erinnerungen an Don Giovanni« tituliert hätte, rührten Teodor Currentzis und das Utopia Orchester (in diesem Fall ein keineswegs übertriebener Name) eine zugleich scharf analytische, musikgeschichtlich reflektierte und überaus muntere, moderne »Klangrede« (Nikolaus Harnoncourt) auf. Schiffs und Currentzis’ Herangehensweisen gleichen sich in dem ernsthaften Bestreben, jede Note, jeden Übergang dieser mit nichts zu vergleichenden Partitur auszuloten. Die Ergebnisse, zu denen sie gelangen, könnten unterschiedlicher nicht sein. Man ist versucht, bei Schiff von einer horizontalen Auffassung zu sprechen, welche die musikalischen Abläufe gültig nebeneinanderstellt, bei Currentzis von einer vertikalen, die Mut und Kraft findet, diese Ausnahmepartitur erstmals wieder wie einer natürlichen menschliche Ursprache auszusprechen, nachdem sie uns durch die Erstarrungen von zwei Jahrhunderten zu einer Fremdsprache geworden war.

Don Giovanni 2024: Davide Luciano (Don Giovanni) © SF/Monika Rittershaus

Musikalische Großstruktur

Natürlich ist dies zunächst eine Frage der Einstellung, des Esprits und der vorausgegangenen musikgeschichtlichen Studien. Allein das Orchester musste vor allem den Mut fassen, nichts für selbstverständlich zu nehmen und alles noch einmal neu zu begreifen. So gewinnt eine scheinbare Seitenfrage wie das Accompagnato der Rezitative völlig neue Bedeutung, wenn neben dem Hammerklavier (Maria Schabaschowa) auch Cello (Aleksandr Prozorow), sowie Laute und Gitarre (Yawor Genow) zum Einsatz kommen, und Don Giovanni beim Fensterln tatsächlich von einer Mandoline (Julia Zimina) begleitet wird. In dezentem Rahmen sind zudem Querverweise ins Accompagnato eingearbeitet. Das Orchester tritt dem im Grunde unmöglichen Raum des Großen Festspielhauses mutig entgegen und beschert uns eine unerhört präsente und frische Musik, welche die Solisten mitreißt und die originelle Bühnengestaltung produktiv konterkariert.

Ästhetische Gesamtwirkung Als gegenläufiges Element seiner klassizistischen Barockbühne führt Castellucci eine Art Surrealismus à la Magritte ein. Das bedeutet, dass man über den Hintersinn seiner einzelnen Bilder, wie eines herabhängenden Autos oder eines auf den Bühnenboden fallenden Flügels, zahlloser roter Bälle, einer Kutsche oder einer die Bühne querenden Ziege ikonographisch nachdenken und tieferen Sinn suchen, oder auch darauf verzichten und die Bilder einfach poetisch auf sich wirken lassen kann. Oberstes Gesetz ist hier eine in jedem Moment überzeugende ästhetische Gesamtwirkung, und zu dieser trägt nicht zuletzt die im Laufe des Abends immer mehr hervortretende Choreographie des Chores bei (Cindy van Acker), sodass man an die durchästhetisierte Aida der persischen Künstlerin Shirin Neshat auf ebendieser Bühne erinnert ist. Nicht anders als Neshat arbeitet Castellucci zudem mit einer farbreduzierten Optik. In beiden Fällen ist die Wirkung unerhört, auch wenn die Künstlerin die Palette auf drei Grundfarben zusammenstreicht, der Künstler aber alles in nachgerade unbegrenzt variable Weißtöne sublimiert. Als Weißclown firmiert gelegentlich auch Don Octavio, ebenso stimmgewaltig wie gut verständlich gespielt, gesungen und artikuliert von Julian Prégardien, dem man anhört und ansieht, wie sehr der vom Kunstlied herkommende Tenor jedes Detail auch geistig durchdringt.

Don Giovanni 2024: Anna El-Khashem (Zerlina), Davide Luciano (Don Giovanni)
© SF/Monika Rittershaus

Ein christliches, theologisches Drama

Die Energie der puren Vitalität und Verführung, welche der Archetyp des Don Juan verkörpert, ist auf dem Theater nur nachvollziehbar und glaubwürdig, wenn er von einem entsprechenden Darsteller verkörpert, bzw. einem starken und einfühlsamen Sänger gestaltet wird. Der nachgerade umwerfende Bariton Davide Luciano aus Benevento, weltweit sängerisch gefragt, beiläufig, selbstverständlich, buhlerisch, auftrumpfend oder subtil, ist ein idealer Don Giovanni und spricht die Sprache der Verführung als Muttersprache. Hinzu kommt seine prononciert romanische Gestalt, wie man sich natürlich Don Juan stets als Spanier, jedenfalls als Romanen, allenfalls noch als Slawen vorstellen mag. Der arabischen Welt beispielsweise ist die Frauenapologie bereits vollkommen fremd, hat die arabische Kultur auch einige der innigsten Beispiele erotischer Dichtung hinterlassen. Auch in unserer eigenen antiken Welt hätten wir Mühe, einen Vorgänger des Don Juan nachzuweisen, mag der Typus in seiner Einsamkeit und Einseitigkeit auch mit dem antiken Satyr verwand sein. So ist das erotische Reich von Daphnis und Chloë etwa von einer galanten, entspannten Entwicklung jugendlicher Sexualität beherrscht, welcher der zwanghafte Charakter Don Juans völlig fremd bleibt. Ein gewaltigen Paradigmenwechsel musste eintreten, um diesen um die Folgen seines Tuns unbekümmerten Anarchisten hervorzubringen. Ohne das Christentum und seine Madonnenbeweihräucherung bleibt die Konstellation unverständlich. Auch hier erweist sich die kritische, historische Durchdringung, die Castellucci dem Stoff angedeihen lässt, wiederum als hilfreich: Noch während der Ouvertüre werden im Bühnenraum, der sich zunächst als Kircheninneres vorstellt, Kruzifix und Heiligenbilder entfernt. Denn im Sinne des achtzehnten Jahrhunderts besteht die Triebfeder Don Juans darin, Gott zu spotten; die verführten Frauen sind nichts als Kollateralschäden.

Ende einer Karriere als Verführer

Das muss man wissen, wenn man über die Figur des Don Juan spricht, und Castellucci stellt uns gleich in der ersten Szene seiner lehrreichen Inszenierung die theologische Grundkonstellation vor Augen. Hier berührt sich das überragende Textbuch von Lorenzo Da Ponte, das problemlos für sich allein stehen kann und alle sozialen Aspekte des Stoffes umfängt, mit den Schriften Sades aus derselben Zeit, die primär theologisch aufzufassen sind. Triumphal beginnt der libertin – so wurde im achtzehnten Jahrhundert ein Gottesleugner genannt – seine Laufbahn, doch schon hier im Laufe des Stücks erleben wir seine von ihm selbst betriebene Banalisierung. Heute ist der Begriff libertin seines theologischen Gehalts entkleidet und bezeichnet lediglich einen Teilnehmer am Pariser Nachtleben. Ursache und Wirkung werden verwechselt, was Da Ponte und Mozart in ihre Oper allerdings schon eingebaut haben.

Donna Anna, Hauptperson der Oper?

Breitesten Raum dieses Werkes beansprucht das Leiden, das der entwicklungsunfähige Leugner Gottes und der Liebe bei den Frauen auslöst. Die glockenreine Sopranstimme und berührende Erscheinung der Sopranistin Nadeschda Anatoljewna Pawlowa, ihre immer neuen Abstufungen eines nicht enden wollenden Schmerzes der Entehrten und Verlassenen legen die Frage nahe, ob sie nicht die Hauptfigur der Oper ist. Wir haben es mit einer Vorform all der leidenden Heroinen des neunzehnten Jahrhunderts zu tun, die aus dem Roman stets leicht den Sprung auf die Opernbühne tun sollten. Federica Lombardi gebietet mühelos über jenen insistierenden, dynamischen Sopran, jenes modulierte Parlando, dessen es zur Gestaltung der Donna Elvira bedarf, jener uns allen bekannten nervenden Frauengestalt, die sich gleichwohl im Recht befindet. Anne El-Kashem wiederum verkörpert die gerade von der deutschen Tradition so sehr geliebte Gestalt der Zerlina als des staunenden jungen Mädchens, das den überwältigenden Offerten eines Oberschichtlers verfällt, selbst an ihrem Hochzeitstag. Man darf nie vergessen, dass die Verführung auch ihre sozioökonomische Seite hat, und diese ist vom Librettisten wie vom Komponisten hier immer mit reflektiert. Ruben Drole gibt den frischen, jugendlichen Verlobten Masetto, der all seiner Vitalität zum Trotz dem Begüterten gegenüber den Kürzeren zieht. Die Frau ist Realistin.

Pavlova (Donna Anna), Ensemble © SF/Monika Rittershaus

Jubel im Großen Festspielhaus

So sagt Don Giovannis Diener Leporello einmal zu seinem Herrn, ich kann ja nicht wie du, wenn es sein muss, mit etwas Geld nachhelfen! Auch sollte man die berühmte Registerarie, in der Leporello die Taten seines Herrn aus plebejisch-materialistischer Perspektive auflistet, genau anhören. Kyle Ketelsen präsentiert uns einen charakter- und stimmstarken Kammerdiener, der sich zu jeder Zeit stimmlich und geistig mit seinem Herrn auf einer Augenhöhe befindet und in der Lage ist, jedes Problem von einer anderen Seite zu beleuchten. Besonders bemerkenswert geht die Produktion mit der Figur des psychoanalytisch nicht eindeutig zu analysierenden Commendatore um. Dimitrij Uljanow ist ein großer und stimmgewaltigen Vater der Donna Anna. Der Aufführungstradition zum Trotz ist er beim Letzten Abendmahl Don Giovannis nicht mehr zu sehen, nur zu hören, und wird ins Innere des verurteilten Verführers verlegt. Ebenso wenig steht ein Orchester auf der Bühne; auch dies folgt dem allgemeinen Abstraktionsprinzip dieser durchdachten und überzeugenden Inszenierung. Nach Tod und Höllenfahrt Don Giovannis bleiben die andern wie leblose Puppen zurück und trösten sich mit der Überzeugung, seht ihr, der Böse kommt doch in die Hölle! Figuren »ohne Schatten«, wie Romeo Castellucci sagt. So zeigt sich als Pointe des Weltdramas, wie sehr die Figur des rücksichtslosen Triebmenschen dem Leben unverzichtbar ist, weil er Morsches einreißt und die Welt neu ordnet. Das ausverkaufte Große Festspielhaus bejubelte die erste szenische Premiere dieses Sommers in Salzburg.


Salzburger Festspiele 2024
Il dissoluto punito ossia Il Don Giovanni
Dramma giocoso in zwei Akten KV 527 (1787)
Libretto von Lorenzo Da Ponte
Musik von Wolfgang Amadeus Mozart

Premiere am 28. Juli 2024
Teodor Currentzis: Musikalische Leitung
Romeo Castellucci: Regie, Bühne, Kostüme, Licht
Cindy van Acker: Choreografie
Piersandra Di Matteo: Dramaturgie,
Theresa Wilson: Mitarbeit Kostüm
Maxi Menja Lehmann: Mitarbeit Regie
Benedikt Zehm: Mitarbeit Licht

Weitere Aufführungstermine: hier

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Salzburg Festival 2024: Mozart “Don Giovanni”

Romeo Castellucci redefines the Gesamtkunstwerk. Teodor Currentzis and the Utopia Orchestra perform the piece as if for the first time. Nadezhda Pavlova shows us why the opera should really be called Donna Anna. By Stephan Reimertz.

Even in its fourth year, Romeo Castellucci’s reimagined Don Giovanni has lost none of its freshness. When direction, stage, costumes, and lighting are unified under one vision, it proves advantageous. Castellucci, who sees himself as a theatre artist deeply rooted in art history, created an aesthetically refined production that has garnered enthusiastic acclaim since its 2021 premiere.

Opera as Fresh Sound Speech
What other director could stage such a complex work as Don Giovanni on such an intellectual level? Castellucci’s ambition is evident in an insightful interview in the program booklet. The production is anchored in a strict Baroque classicism of the 17th century. Teodor Currentzis and the Utopia Orchestra interpret the piece with an analytical yet lively sound speech, reviving the score as a natural human language.

Musical Macrostructure
The orchestra had to muster the courage to reimagine everything. For example, the accompagnato of the recitatives gains new significance with the addition of cello, lute, and guitar. The production defies the limitations of the Großes Festspielhaus, delivering present and fresh music that energizes the soloists and productively contrasts with the original stage design.

Aesthetic Overall Effect
Castellucci combines classicist Baroque stage design with surrealist elements. Each image holds deeper meaning but can also be appreciated poetically. The choir’s choreography is reminiscent of Shirin Neshat’s Aida. Castellucci’s use of a reduced color palette is striking. Julian Prégardien impresses as Don Ottavio with powerful performance and singing.

A Christian Theological Drama
Davide Luciano convincingly embodies Don Juan. His Romanesque appearance and singing make him the ideal Don Giovanni. The constellation of characters remains incomprehensible without the context of Christianity and its veneration of the Madonna. Castellucci illustrates this in the opening scene by removing crucifixes and religious images.

The End of a Seducer’s Career
Castellucci presents the theological foundation of Don Juan compellingly. Nadezhda Pavlova poignantly portrays Donna Anna’s suffering. Federica Lombardi as Donna Elvira and Anne El-Kashem as Zerlina also excel. Kyle Ketelsen as Leporello and Dimitrij Ulyanov as the Commendatore complete the ensemble.

Cheers in the Großes Festspielhaus
After Don Giovanni’s death and descent into hell, the remaining characters are left like lifeless puppets. The sold-out Großes Festspielhaus enthusiastically celebrated the first scenic premiere of this summer in Salzburg.


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