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Bram Stoker: Es muss nicht immer ein Vampir sein

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Sternstunden der Literatur und Musik – auch für Blinde und Sehbehinderte

„Das Geheimnis der See“ von Bram Stoker vereint das Beste, was die Unterhaltungsliteratur vor 1900 zu bieten hat. Von Barbara Hoppe.

Ein Schatz wird gehoben

Es erstaunt, dass ein Buch wie „Das Geheimnis der See“ von Bram Stoker bis ins Jahr 2024 warten musste, bis es ins Deutsche übersetzt wurde. Das Werk des weltberühmten Autors, dessen „Dracula“ ein Bestseller ist und dessen unzählige Verfilmungen und Variationen bis heute das Publikum begeistern, müsste doch hinlänglich in allen Sprachen verfügbar sein – sollte man meinen. Weit gefehlt. Erst der Hamburger mareverlag kramte etwas tiefer und förderte weitere literarische Schätze des irischen Autors zutage. 2020 ließ er Alexander Pechmann die Erzählung „Der Zorn des Meeres“ ins Deutsche übersetzen. Vier Jahre später liegt mit der deutschen Fassung von „Das Geheimnis der See“ – in heutiger Zeit darf man angesichts von knapp 550 Seiten wohl von Mammutwerk sprechen – ein solches vor. Ein Roman, der in dieser Form wohl nie mehr geschrieben würde. Und der erneut von Alexander Pechmann in feinster Weise und sprachlich ausgefeilt den Weg in die deutsche Sprache fand.

Ein Roman wie ein Rückzugsort

Freilich muss man genau aus diesem Grund die Literatur lieben, das Sich-Zurückziehen und Schmökern. Das Sich-Zeit-Nehmen, um Satz für Satz genussvoll aufzusaugen. Weniger poetische Seelen würden vielleicht sagen: Man muss gewaltig geduldig sein und einen langen Lese-Atem haben, um die langsame Erzählweise zu ertragen. Hier geht es aber nicht um diejenigen, die nur noch im Eiltempo durch kurze Kapitel und noch kürzere Sätze und Dialoge galoppieren (können), sondern um jene, für die ein Roman eine Reise in eine andere Welt ist. Diese Leser also, die das schön gestaltete Buch aus dem Schuber ziehen und sich mit Archibald Hunter an die wilde Küste Schottlands begeben, werden dafür ausgiebigst belohnt.

Genres im Wechselspiel

Denn Bram Stoker zieht hier alle Register englischer Unterhaltungsliteratur: Schauer-, Verschwörungs-, Polit-, Spionage-, Kriminal- , Piraten- und Abenteuerroman fließen ineinander. Ein geheimnisvoller Schatz spielt eine Rolle, dessen Wurzeln bis zur Seeschlacht der spanischen Armada zurückreichen, aber auch aktuelle Bezüge hat Bram Stoker in seinen 1902 erschienen Roman einfließen lassen: Der kurze spanisch-amerikanische Krieg vom 23. April bis 12. August 1898 ist der Grund, warum Archibalds Angebetete, die US-Amerikanerin Marjory, in höchste Lebensgefahr gerät. Denn Dank ihres Vermögens hatte sie sich in den Krieg eingemischt und sich Spanien zum Feind gemacht.

Womit wir wieder bei Archibald Hunter sind. Ein junger Mann, der bis dato ein geordnetes, wenig aufregendes Leben geführt hat. Ein bescheidenes Vermögen ermöglicht es ihm, regelmäßig in Cruden Bay beim Dörfchen Whinnyford im schottischen Aberdeenshire Urlaub zu machen und sich dort ein Häuschen zu bauen. Eine Gegend übrigens, in der sich Bram Stoker selbst häufig als Tourist aufhielt und sie daher gut kannte. Dort begegnen Archibald alsbald drei Frauen: die unheimliche Gormala, die junge, hübsche und äußerst selbstbewusste Amerikanerin Marjory und deren Gesellschafterin Mrs. Jack.

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Cover: mare verlag

Zwischen Geisterscheinung und Girlpower

Das stürmische Meer der schottischen Küste fordert immer wieder Opfer und so wundert es nicht, dass Bram Stoker sein Epos als Schauerroman beginnt. Archibald wird das zweite Gesicht bescheinigt, die Fähigkeit, nahe Tode vorauszusehen. Schauerliche Erscheinungen bevölkern die raue, windzerzauste Gegend mit der alten Gormala im Zentrum des Geschehens. Sie steht im Gegensatz zur frischen, jungen und selbstbewussten Marjory, die sich nicht einschüchtern lässt, ausgesprochen sportlich ist, leidenschaftlich gern Rad fährt und zudem auch noch perfekt mit einer Pistole umzugehen weiß. Sie verkörpert den Aufbruch in eine moderne Zeit mit ihren sich wandelnden Geschlechterrollen, in der Frauen genauso logisch denken wie Männer und sich ebenso furchtlos in die sich bietenden Abenteuer stürzen.

Kampf um Ehre und Liebe

Die junge Amerikanerin ist ein reizvoller Kontrast zu dem eigentlichen Protagonisten des Romans: Das Viktorianische Zeitalter mit seiner Literatur. Elegische, episch angelegte Landschaftsbeschreibungen durchziehen die Seiten. Das schwärmerische Lieben von Archibald Hunter angesichts Marjory gehören dazu, aber auch der galante, ehrenhafte Spanier Don Bernardino, Nachfahre der Schatzhüter, der persönliches Glück der Ehre unterordnet und diese wiederum für die Ehre einer Frau – möge sie auch seine Feindin sein – opfert.

Beide Männer ziehen in den Kampf gegen üble Bösewichte, die das Leben Marjorys bedrohen. Wer „Dracula“ kennt, wird zweifellos das Motiv wiedererkennen: Eine Handvoll mutiger Männer tut sich zusammen, um eine schöne, unschuldige Frau aus Lebensgefahr zu befreien. Alle freilich aus verschiedenen Motiven: der eine aus Liebe, der andere wegen der Ehre und die Geheimagenten auf Befehl ihrer Regierungen.

Bram Stoker: Nachklang einer vergangenen Zeit

Es ist also ein wilder, langer Ritt, auf den uns Bram Stoker mitnimmt und an dessen Ende das wohlige Gefühl steht, nach einem Lesevergnügen aus dem Besten, was das literarische Viktorianische Zeitalter zu bieten hat, ins Hier und Jetzt zurückzukehren.

Bram Stoker
Das Geheimnis der See
a.d. Engl. v. Alexander Pechmann
mareverlag, Hamburg 2024
bei amazon
bei Thalia

Bei Verwendung des Textes bitte Quelle angeben bzw. verlinken.

Bram Stoker: More than just ‘Dracula’

Bram Stoker’s „The Mystery of the Sea“, published in German for the first time in 2024, is a literary masterpiece. This 1902 novel blends Gothic, espionage, and adventure elements. Archibald Hunter, a young man drawn to Scotland’s rugged coast, meets three women there: the mysterious Gormala, the independent American Marjory, and her companion Mrs. Jack.

Marjory represents a modern, progressive spirit—strong, sporty, and fearless—a stark contrast to the Victorian world Archibald inhabits. The plot revolves around a hidden treasure linked to the Spanish Armada and Marjory’s brave actions during the Spanish-American War, which put her life in danger.

Stoker’s prose is epic, with vivid landscape descriptions and compelling character dynamics. Translator Alexander Pechmann masterfully captures the elegance of the original.

The Mystery of the Sea“ is a rewarding journey into the Victorian era. Readers seeking to immerse themselves in a rich, multifaceted tale will be captivated.

2 Gedanken zu „Bram Stoker: Es muss nicht immer ein Vampir sein“

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