Bernhard Glocksin hat die Neuköllner Oper in den vergangenen 21 Jahren geprägt wie kaum ein anderer. Als künstlerischer Leiter verstand er es, das traditionsreiche Haus in Berlin zu einem Labor für neues Musiktheater zu machen – mutig, vielfältig und gesellschaftlich wach. Im Sommer 2025 nimmt Glocksin Abschied von der Bühne, die er so entscheidend mitgestaltet hat. Im Gespräch mit dem Feuilletonscout blickt er zurück auf Visionen, Erfolge, Herausforderungen – und auf eine Zeit, die ihn ebenso verändert hat wie das Theater selbst. Die Fragen stellte Barbara Hoppe.
Expedition Musiktheater
Feuilletonscout: Herr Glocksin, Sie sind 2004 künstlerischer Leiter der Neuköllner Oper geworden. Was war damals Ihre Vision für das Haus – und wie hat sie sich im Laufe der Jahre verändert oder bestätigt?
Bernhard Glocksin: „Ausweitung der Spielzone“, das war meine Vision damals, und ist sie bis heute. Die NKO war seinerzeit ja bestens aufgestellt, mit den großartigen Musicals von Peter Lund und dem Wirken seines Gründers Winfried Radeke. Nun ging es darum, weitere und neue Künstler*innen, Spielweisen und Musikstile ins Haus zu holen – etwa die besonderen Handschriften der Regiekollektive von „leitundlause“ bis zu „Hauen und Stechen“. Komponierenden Werkaufträge für neue Stücke zu geben, Talente zu finden und zu stärken, internationaler zu arbeiten, das alles. – Was sich verändert hat? Die Gesellschaft ist zerrissener (in unserer, der Neuköllner Passage, leidvoll zu erleben), die freie Szene im Musiktheater hat sich mächtig und prächtig entwickelt, dazwischen heißt es Position beziehen: für ein gesellschaftlich und musikalisch offenes Musiktheater, das Impulse setzt.
Feuilletonscout: Was war Ihnen als künstlerischer Leiter in Bezug auf die Stücke wichtig?
Bernhard Glocksin: Dass es bei aller Vielfalt – die ja unser Markenzeichen ist – nie beliebig wird: die Teams, Künstler*innen und Stücke haben ihre Dringlichkeit: gemeinsam der Schönheit, Stärke und dem Scheitern des Menschen zu folgen.
Feuilletonscout: In Ihrer Zeit sind viele Uraufführungen und deutsche Erstaufführungen entstanden. Gibt es darunter Produktionen oder Momente, die Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben sind? Welches Stück an Ihrem Haus hat Ihnen am meisten Spaß gemacht und warum?
Bernhard Glocksin: Die Stücke, die wir hier herausbringen sind ja immer so etwas wie Kinder, und daher sind einem alle auch wichtig. Sagen wir es andres: besonders glücklich haben mich – jetzt nur als Beispiel – STELLA, EXIT PARADISE, DER SCHUSS, GIOVANNI gemacht.
Wenn Stillstand Kreativität weckt
Feuilletonscout: Welches hat Sie am meisten herausgefordert und warum?
Bernhard Glocksin: Die Corona Zeit war sicher die schwierigste – und vielleicht kann ich auch sagen, genau deswegen sind da auch wirklich sehr bewegende, bemerkenswerte Produktionen entstanden. Wie die live- TV- Serie THE DEAN OF GERMANY oder die nächtliche Eroberung des Neuen St. Jacobi-Friedhofs mit GIOVANNI. EINE PASSION.
Feuilletonscout: Welches Stück würden Sie rückblickend nicht mehr machen und warum?
Bernhard Glocksin: Naja, wer soviel produziert, der macht auch Flops. Und davon gibt es echt wunderschöne Exemplare, an die man nun wirklich nicht mehr erinnert werden will. Also: tun Sie es bitte nicht – Smiley 😉
Talente wachsen sehen
Feuilletonscout: Wie haben Sie die Entwicklung der Künstlerinnen und Künstler erlebt, die an der Neuköllner Oper ihre ersten Schritte gemacht haben?
Bernhard Glocksin: Das ist und war ein, wie soll ich sagen, Geschenk… zu sehen, wie Sänger*innen oder Regisseur*innen, in denen man ein Talent sah, gewachsen sind und wie sie dann, erst bei uns und später auf anderen Bühnen, diese tollen Karrieren gemacht haben. Wie etwa die Sänger*innen Sophia Euskirchen, Martin Gerke, Ulrike Schwab – Ulrike wurde dann auch und besonders für ihre großen Inszenierungen als Regisseurin gefeiert– nach WOLFSKINDER, GIOVANNI, FRAU OHNE SCHATTEN hier (als Beispiel, es sind ja viel mehr Stücke bei uns entstanden) sieht man nun ihre Arbeiten an den Staatsopern Stuttgart, München u.a.
Feuilletonscout: Was waren die größten Herausforderungen in Ihrer Zeit als Intendant – künstlerisch, organisatorisch oder politisch?
Bernhard Glocksin: Naja, das ist schon speziell, wenn der – sagen wir mal: – eigene Erfolg zur Falle wird. Wenn Künstler*innen, die hier erfolgreich waren, dann nicht mehr zurückkommen können, weil es bundesweit für sie große und schöne Aufträge gibt… wenn man als Theater mit aller Produktivität beständig wächst, die Struktur – Budgets, Zahl der Mitarbeitenden, Beschränkungen durch die Enge des Hauses – aber dieses Wachstum nicht mitmachen kann … und kulturpolitisch: wenn man, bei aller Zuwendung des Senats, auch nach nun fast 50 Jahren noch immer keine wirklich verbindlich und ausreichend subventionierte Größe in der Berliner Theaterlandschaft ist… was wird da auf uns zukommen das kommende Jahr?
Fazit
Feuilletonscout: Worauf sind Sie persönlich am meisten stolz, wenn Sie auf die vergangenen 21 Jahre zurückblicken?
Bernhard Glocksin: Das wir gemeinsam diesen Weg gehen konnten: da sind Menschen auf der Bühne aufgeblüht, in Momenten, Inszenierungen, mit Musik, die etwas bedeuten für alle, die dabei waren. Die dem Lauf dieser Zeiten etwas Positives entgegengesetzt haben.
Feuilletonscout: Hat Sie die Tätigkeit an der Neuköllner Oper verändert?
Bernhard Glocksin: Klar, und wie!
Feuilletonscout: Welches persönliches Fazit ziehen Sie aus Ihrer Zeit an der Neuköllner Oper?
Bernhard Glocksin: Das es sich lohnt: für etwas zu brennen, zu arbeiten, zu überzeugen bis zum letzten Moment – selbst wenn der Zeitgeist, wenn der Fokus des Mainstreams nicht auf dir liegt.
Feuilletonscout: Wie würden Sie das Erfolgsrezept der Neuköllner Oper beschreiben?
Bernhard Glocksin: Rezepte funktionieren in der Kunst und im Theater leider nicht so wirklich. Aber was unser Ding hier ist: das Leben ist voll von guter Musik, tollen Leuten und jeder Menge Drama und Katastrophe – mischen wir uns also ein!
Feuilletonscout: Wie hat sich das Publikum der Neuköllner Oper in Ihrer Zeit verändert? Welche Rolle spielt das Haus heute in der Berliner Kulturlandschaft?
Bernhard Glocksin: Berlin ist diverser und zugleich angespannter, die Theater stehen wie alles andere auch unter dem unerbittlichen Druck der „Aufmerksamkeitsökonomie“ – da musst du ganz anders wach sein als vor 20 Jahren. Die NKO ist in dieser Gemengelage das nach wie vor produktivste Musiktheater mit einem Spielfeld internationaler Zusammenarbeit und als Haus, als Anker für die Berliner Freie Szene.
Vorhang fällt, Blick nach vorn
Feuilletonscout: Mit der Spielzeit 2024/25 verabschieden Sie sich. Wie fühlt sich dieser Abschied an? Wie viel Wehmut steckt darin? Und was wünschen Sie sich für die Zukunft der Neuköllner Oper?
Bernhard Glocksin: Das war hier eine glückliche Zeit, herzlichen Dank an alle, die das möglich gemacht haben! Und zugleich bin ich froh, demnächst mehr freiberuflich machen zu können. Der NKO wünsche ich, dass sie stark bleiben und sich weiter entwickeln kann! Als Haus für viele und ganz unterschiedliche Menschen.
Feuilletonscout: Ihr Nachfolger Rainer Simon übernimmt ab August 2025. Gibt es etwas, das Sie ihm mit auf den Weg geben möchten?
Bernhard Glocksin: Jow: ne große Vorratspackung Mut, Kraft, Geschick, Ausdauer und Glück für sein Programm und die nicht gerade rosigen Zeiten, die nun ins Haus wehen. Aber das wird!
Feuilletonscout: Gibt es eine Botschaft, die Sie dem Ensemble, dem Publikum und der Berliner Kulturszene mit auf den Weg geben möchten?
Bernhard Glocksin: Bleiben wir im Theater und Alltag zusammen, offen, solidarisch und entschieden: denn die Rechtspopulisten und viele, die jetzt als Musterschüler der USA unsere Demokratie demontieren wollen: die sind keine Alternative für Deutschland!
Vielen Dank für das Gespräch, Bernhard Glocksin!
Bernhard Glocksin on visions and farewells
Bernhard Glocksin shaped the Neuköllner Oper for over two decades with his vision of “expanding the playing field.” His goal was to bring new artists, musical styles, and forms to the stage. Social tensions became part of the theatre’s work: “Society has become more divided, and the independent music theatre scene has grown powerfully.” For Glocksin, artistic urgency remained essential: “It must never become arbitrary.” Particularly moving for him were productions during the pandemic, such as the live TV series THE DEAN OF GERMANY or the night-time takeover of the St. Jacobi Cemetery with GIOVANNI.
He is proud of having supported young artists and witnessing their careers take off. Challenges persisted: successful artists often moved on, while the theatre’s structures and budgets could not keep pace. Politically, the house remains underfinanced despite its success. Personally, Glocksin concludes: “It’s worth burning for something, even if the mainstream focus isn’t on you.” For the Neuköllner Oper, he wishes to “remain strong and continue evolving — as a house for many and very different people.” For his successor Rainer Simon, he has one message: “a large supply of courage, strength, skill, perseverance, and luck.”





