Eine Kurzgeschichte
von Stephan Reimertz
Das Hotel war an der Place Dauphine. Ich zahlte für eine Woche im Voraus. Am Abend ging ich durch die Stadt, dachte an meine Jugend und kaufte mir eine Flasche Rotwein, Käse und ein Baguette. Ich ging hinunter zur Spitze der Insel, setzte mich zu den jungen Leuten auf die Steine und schaute den Fluss hinunter. Schiffe mit Touristen fuhren vorbei. Wasser schwappte. Ein paar Jugendliche hatten ein Radio mitgebracht und tanzten. Andere saßen da und rauchten.
»Es ist wie auf einem Boot«, sagte ein Mädchen. Ich drehte mich um. Sie gefiel mir. Mit so einem Mädchen war ich vor langer Zeit zusammen gewesen.
»Haben Sie eine Zigarette?«
»Nein«, sagte ich und goss ihr Wein in den Plastikbecher. Sie rückte näher.
»Sind Sie aus den Staaten?« fragte sie.
»Aus Wisconsin.«
»Wie meine Mutter.«
»Und Ihr Vater?«
»Hab ich nicht gekannt.«
»Das tut mir leid.«
»Nicht Ihre Schuld.«
Sie erzählte von ihrer Mutter und ihrer Großmutter, ihrer Kindheit in Evanston, von Wochenenden am Lake Michigan und Ferien in Wisconsin. Sie berichtete vom College, ihren Kursen und von dem Französischlehrer. Sie nahm Baguette und Käse.
Es wurde dunkel, und die Schiffe strahlten die Fassaden der Häuser am Ufer mit Scheinwerfern an.
»Wie heißen Sie?«
»Sophie.«
Warum sollte sie nicht Sophie heißen? Viele Leute hießen Sophie. Meine Mutter hieß Sophie.
Wir redeten und tranken. Als die Flasche leer war, lehnte sie ihren Kopf an meine Schulter.
»Wo wohnen Sie?«
»Im Henri IV.«
»Ich bringe Sie hin.«
»Das müssen Sie nicht.«
»Ich wohne dort.«
»Ja, es ist billig.«
An der Zimmertür küsste sie mich.
»Wollen Sie morgen einen Spaziergang mit mir machen?«
Am nächsten Tag gingen wir den Boulevard Saint-Michel hinauf und durch den Jardin du Luxembourg. Sie war blond, und ich war blond, und die Leute schauten uns nach.
»Wohnen Sie immer noch in Evanston?«
»Ja. Sie kennen es?«
»Ich kenne es.«
Sie hängte sich bei mir ein. Wir umrundeten das Becken mit der Fontäne am Palais du Luxembourg, gingen am Kinderspielplatz und an den Schachspielern vorbei und fanden einen Platz in dem Gartenlokal am alten Marionettentheater. Sie bestellte eine Limonade.
Ich erinnerte mich, dass ich schon einmal mit einem Mädchen hier gesessen hatte. Oder war es in dem Lokal auf der anderen Seite des Parks beim Musikpavillon?
»Deine Hand sieht aus wie die große Schwester von meiner«, sagte sie und nahm meine Hand.
Den Nachmittag verbrachten wir in ihrem Zimmer im Henri IV. Abends saßen wir mit einer Flasche Rotwein, einem Baguette und etwas Käse an der Spitze der Insel, wo die beleuchteten Schiffe vorbeifuhren.
»Willst du mit mir leben?« fragte sie und lehnte den Kopf an meine Schulter. »Es muss nicht Evanston sein.«
»Es sollte nicht Evanston sein.«
(geschrieben 2001 – 2007)
Der Autor
Stephan Reimertz, Deutschlands poeta doctus, ist bekannt für Gedichte von unnachahmlicher Anmut. In seinen Short Stories ist er jenem Phänomen auf der Spur, das wir Liebe nennen. In seinem vielgelesenen Roman Eine Liebe im Porträt setzte er der Malerin und Wagnersängerin Minna Tube ein Denkmal, die daraufhin wiederentdeckt wurde. Sein Klassiker Papiergewicht beschreibt die Erosion einer Oberschichtsfamilie der siebziger Jahre. Viel diskutiert werden seine kunstgeschichtlichen und philosophischen Essays.
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