Gerade wird seine Tetralogie um den Ermittler Duca Lamberti neu aufgelegt. Es ist Zeit, den Begründer des italienischen Kriminalromans, Giorgio Scerbanenco, neu zu entdecken findet Ingobert Waltenberger, der von „Das Mädchen aus Mailand“ begeistert ist.
„Er schaute Davide nicht an, es war ihm egal, ob er ihm zuhörte oder nicht, er sprach vor sich hin, als würde er beten – Das Leben eines Menschen erzählen, ist das nicht wie beten?“
Die Faschisten in Italien hatten Kriminalromane wegen des schlechten Einflusses auf die Jugend verboten. Der mit seiner Mutter bei Ausbruch der Russischen Revolution aus Kiew nach Italien geflohene Giorgio Scerbanenco sollte mit seinen vier Duca-Lamberti-Romanen der erste sein, am Vorabend der 68-er Revolutionen den gnadenlos harten Zeitgeist in originäre Literatur zu gießen. Seine Worte scheinen mit scharfem, zu harter Spitze geschnittenem Bleistiften ins Papier geritzt, klar, nicht geschwätzig, am G-Punkt. Das Ergebnis sind Scherenschnitte der italienischen Gesellschaft, zeitlos, mit sozialer Brille, vielleicht ein wenig schwarz-weiß. Kein Einfluss des amerikanischen „Hard Boiled“ mit der Anprangerung von Gewalt, Habgier und Morallosigkeit, um dem Leser den richtigen Weg zu weisen. Hier geht‘s darum, die Bösen hinters Gitter zu bringen.
Aber Warnung: Political Correctness der Untersuchungs- und Verhörmethoden wird man nicht unbedingt finden. Der von einer ehernen Moral geprägte Roman versetzt den Leser mitten ins Italien der ausgehenden 60-er Jahre. War da etwas? Ach ja, 50 Jahre sind seither vergangen und die klaffende Schere zwischen Arm und Reich, die Rolle der Mafia, Prostitution und Mädchenhandel, alles war gerade so wie es heute ist. Nur die Handys und all der technische Labor-Schnickschnack fehlen. Der Fokus im Kriminalquartetterstling „Das Mädchen aus Mailand“ ist auf eine höhere gesellschaftliche Gerechtigkeit gerichtet. Der Kampf gegen das organisierte Verbrechen, der große Fang der obersten Köpfe ohne Rücksicht auf Verluste, zählt zu deren vornehmsten Aufgaben.
Der Protagonist oder vielmehr Antiheld des Romans ist der Sohn eines von der Mafia übel zugerichteten Polizisten. Ihm soll es künftig besser gehen, daher darf Duca unter großen finanziellen Opfern des alleinerziehenden Vaters Medizin studieren. Als engagierter Arzt landet dieser eigentümliche Dr. Duca Lamberti wegen Sterbehilfe aber alsbald selbst im Gefängnis. Ihm wird die Approbation entzogen. Quasi noch am Gefängnistor verschafft des Vaters alter Polizeikumpel Carrua dem arbeitslosen Dottore einen seltsamen Job bei Ingenieur Pietro Auseri. Dessen 20-jähriger Sohn Davide leert seit Monaten eine Flasche Whisky nach der anderen. Vier Wochen hat Duca Zeit, dieses schöne Ebenbild von Michelangelos Statue mit dem weichen Gemüt von seiner Alkoholsucht abzubringen.
Welche Gewissensbisse, Schuldgefühle und Sühnegedanken bringen den jungen Mann dazu, sich gleich zu Beginn der Begegnung der beiden Außenseiter die Pulsadern aufzuschneiden? Zwei tote Gelegenheitsprostituierte aus „besseren Verhältnissen“, ein grauhaariger Gigolo und ein Fotograf spielen die Schlüsselrolle im folgenden Spiel um Wahrheit und die Macht des Rechts. War es wirklich Selbstmord, der dem Leben der jungen Frauen ein Ende setzte? Duca Lamberti darf jedenfalls auf große Fahrt gehen. Mit dem Sanctus des Polizisten Carrua übernimmt er Undercover-Ermittlungen, die der schönen Livia als Köder nicht das Leben kosten, aber doch unzählige Messerschnitte im Gesicht. Die Giulietta jagt den silbergrauen Mercedes 230. Am Ende…Ja, das verrate ich jetzt natürlich nicht, da müssen Sie als Leser und Leserin schon selbst ran…
Scerbanenco hat den Reigen all der unzähligen Commissarii mit einem Aufklärer eröffnet, der „keine Falschspieler mag.“ Duca erklärt im Roman selbst , wie das zu verstehen sei: „Heutzutage gibt es leider jede Menge Kriminelle, die die Anwaltskanzlei gleich mit dabeihaben. Sie betrügen, rauben und töten nach Herzenslust, und dabei ist ihre Verteidigungsstrategie längst mit dem Rechtsanwalt abgesprochen, für den Fall, dass sie entdeckt und vor Gericht gestellt werden. Diese Halunken werden viel zu selten bestraft. Sie verlangen von den anderen, die Spielregeln zu beachten, haben aber selbst keine Lust dazu. Und das geht mir gegen den Strich, solche Leute ertrage ich nicht.“
Scerbanenco erachtet den Krimi deswegen als eine so bohrend Kunstform, weil dort der Luxus der Entscheidungsfreiheit herrsche, beseitigen zu können, wen man wolle, ohne stets nett und freundlich sein zu müssen. In diesem Sinne: Wenn Sie schon alle Bücher von Simenon durchhaben, nicht ihr Geld für als Kochkriminalbücher getarnte Regionalwerbung italienischer Provinzen ausgeben wollen, Donna Leon zum Sterben bieder finden, aber Elena Ferrante mögen, dann dürfte auch Scerbanenco ihr Mann sein.
Über den Autor:
Neben 60 Romanen verfasste Scerbanenco zahlreiche Kurzgeschichten. Scerbanenco wurde 1969, kurz vor seinem Tod, mit dem Grand Prix du Roman Policier ausgezeichnet. Die Neuauflagen erscheinen rechtzeitig vor dem 50. Todestag des Autors
Giorgio Scerbanenco
„Das Mädchen aus Mailand. Duca Lamberti ermittelt.“
Aus dem Italienischen von Christiane Rhein
Folio Verlag, Wien/Bozen 2018
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Coverabbildung © Folio Verlag
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