Weltklasse in München findet Feuilletonscout-Autor Stephan Reimertz
Wer sich, sei es von Berufs wegen, als Arzt, Psychiater oder Historiker, sei es als Betroffene, mit weiblicher Sexualität und ihrer Geschichte beschäftigt, erhält derzeit von den Bayerischen Staatstheatern einiges Anschauungsmaterial. Im Cuvilliéstheater läuft eine respektable Inszenierung von Henrik Ibsens »Nora«. Regisseur Mateja Koležnik lässt das Ende und die Frage ob Nora (Genija Rykova) ihren Mann, der sie nicht ernst nimmt, verlässt oder nicht, in der Schwebe. In der Realität von heute dürfte die Lösung der Frage wohl vom Gehalt des Mannes abhängen; wie denn auch kein Mann mehr wagt, seine Frau zu verniedlichen. Das besorgt sie im Zweifel schon selbst. Wesentlich härter als in der dezenten und konzentrierten Schauspielproduktion nach Ibsen geht es in der neuen Inszenierung von Dimitrij Schostakowitschs zweiter Oper »Lady Macbeth von Mzensk« zu, die in der Regie von Harry Kupfer soeben am Nationaltheater Premiere hatte. In diesem Musikdrama, das sich eng an seine Vorlage hält, eine lesenswerte Novelle von Nikolaj Leskow aus der Mitte des neunzehnten Jahrhundert, triumphiert die weibliche Sexualität als unumschränkte Herrscherin.
Weibliche Sexualität versus brutaler Produktionsprozess
Katerina, die sich in der Ehe mit einem impotenten Kaufmann langweilt und der noch dazu ein geifernder Schwiegervater nachstellt, ist bereit, alles zur Befriedigung ihrer Lust zu opfern. So groß ist ihre Not, dass sie sich jedem hingeben würde. Bis sie sich den Arbeiter Sergej nimmt und ihm bis in den Tod hörig bleibt. Katerina ist eine Schwester all der unbefriedigten Frauen des neunzehnten Jahrhunderts, all der Emmas, Nataschas, Marguerites und Effis; aber von ihnen allen ist sie diejenige mit der härtesten, brutalsten Sexualität und dem entsprechenden Willen, sie auszuleben. Dafür bringt sie jedes Opfer: Vergiftet den Schwiegervater, bringt mit ihrem Liebhaber den Ehemann um und verliert ihre bürgerliche Existenz. Mit einem Wort: sie ist wunderbar, und jeder Mann wünschte sich, so einen heißen Feger persönlich kennenzulernen. Auf der Opernbühne kommt ihr nur Alban Bergs »Lulu« gleich; und in der Tat hat der Wiener Komponist dem russischen Kollegen über »Lady Macbeth« einen begeisterten Brief geschrieben.
Dass auch Katerinas Rache schrecklich ist, versteht sich von selbst. Das bekommt Sergej zu spüren, als er am Ende der Oper fremdgeht. Der Realitätssprung, den wir als Hörer dieser Oper vollbringen müssen, ist ein doppelter: Einmal transponiert der Komponist den Stoff von 1865 in die Mitte der dreißiger Jahre, also die Zeit der Stalinistischen Schauprozesse. Bühnenbildner Hans Schavernoch findet in einer riesigen Fabrikhalle das überzeugende Bild für das stählerne Gehäuse des gnadenlosen Produktionszwangs, dem sich alle Protagonisten ausgesetzt sind. Katerinas Sexualität zeigt sich also unter besonders erschwerten Bedingungen als anarchische, befreiende, aber auch zerstörerische Kraft. Mit dieser Oper eröffnete Dimitrij Schostakowitsch sein jahrzehntelanges Duell mit Stalin, in dem er stets um seinen Kopf spielte. Diese Musik mit ihrer formalen Komplexität und ihrer Neigung zu Ironie, Satire, Groteske und zum Dämonischen konnte dem Diktator nicht gefallen, der von Schostakowitsch lieber neoklassizistische Werke hören wollte.
Meisterleistungen von Anja Kampe und Kirill Petrenko
In der gerade begonnenen Saison wird die »Lady Macbeth von Mzensk« weltweit in 37 Aufführungen von 9 Produktionen in acht Städten zu sehen sein, darunter in der Wiener Staatsoper, wo das Werk im April 2017 neu herauskommen wird. »Die Nase« Schostakowitschs erste Oper, steht dagegen allein in Moskau und Sankt Petersburg auf dem Programm. Was bedeutet es aber, diese Oper heute wieder zu sehen? Die zweite Transposition, die wir als Hörer und Zuschauer vollbringen müssen, ist diese: Weibliche Sexualität als Triebfeder politischer Befreiung scheint ebenso verlorengegangen zu sein wie Noras Bedürfnis, als Persönlichkeit ernstgenommen zu werden. An ihre Stelle treten Produktion und Konsum als totalitäre Mächte. Weibliche Emanzipation und Sexualität scheinen wie Erinnerungen an eine verlorene Zeit, von niemandem leidenschaftsloser verabschiedet als von den Frauen selbst. »Lady Macbeth von Mzensk« mahnt uns an die Brutalität des Produkionsprozesses, der die natürliche Anarchie weiblicher Sexualität unter sich begraben hat. So zeigte auch das Opernpublikum in München keinen Hauch von Ancien Régime, eher hing ein Dunst von C&A über den Besuchern. Anstatt von Erotik wird die heutige Gesellschaft, jedenfalls in München, von jenen grauen Mäusen bestimmt, die Hannah Arendt am Ende von »Vita Activa« vorausgesagt hat. Gibt es eine zweite Stadt in Europa mit einem so uneleganten, spießigen Opernpublikum? An Disziplin während der Vorstellung und echter Musikliebe tut es den Münchnern indes so schnell keiner nach, wie denn Premiere und erste Vorstellungen restlos ausverkauft waren und die Besucher den Musikern begeistert applaudierten, besonders der Darstellerin der Katerina, Anja Kampe, und Kapellmeister Kirill Petrenko, seit Herbst 2013 Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper.
Petrenko dürfte zurzeit einer der weltweit spannendsten Dirigenten sein. Die Verbindung von Leidenschaft und Präzision und die geistige Durchdringung einer komplexen Partitur, wie der Dirigent sie hier mit dem Bayerischen Staatsorchester hörbar machte, bescherte dem Nationaltheater eine Sternstunde. Mit seiner »Lady Macbeth« hat Schostakowitsch eine Musik geschrieben, die Martialisches unentwegt mit höchst Subtilem verbindet. Es ist Oper für Kenner, zugleich für Hartgesottene. Das Welttheater von Altregisseur Harry Kupfer ist freilich immer zugleich Stadttheater. In Verbindung mit dem überzeugenden Bühnenbild und der herausragenden musikalischen Umsetzung gelang in München jedoch ein Abend, der als Weltklasse bezeichnet werden kann.
Lady Macbeht von Mzensk
Weitere Aufführungen am 8. und 11. Dezember 2016 sowie am 22. Juli 2017
Bayerische Staatsoper
Max-Joseph-Platz 2
80539 München
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