Rezension von Ronald Klein.
Eigentlich wäre es Zeit für ein neues Depeche-Mode-Album. Die Briten veröffentlichen schließlich im Vierjahrestakt neue Longplayer. Doch die Corona-Prävention schiebt die Planung nach hinten. So entstanden im Heimstudio von Santa Barbara zwar neue Stücke, die jedoch nicht auf die Band ausgelegt, sondern auf MG. Hinter dem Akronym verbirgt sich Martin L. Gore, seines Zeichens Hauptsongschreiber von Depeche Mode. Bei der Band überlässt Gore in der Regel (von wenigen Balladen mal abgesehen) Dave Gahan das Mikrofon. Bei Solo-Platten wie „Counterfeit“ (1989) präsentierte sich der Engländer hingegen durchgängig als typischer Frontmann.
Damit hat das Projekt MG jedoch nichts zu tun. Wie bereits beim selbstbetitelten Debüt 2015 lotet Gore elektronische Songstrukturen rein instrumental aus. Die melancholische Melodielinie von ,Howler‘ hätte auch den frühen Depeche Mode gut zu Gesicht gestanden, als sie noch schwarz trugen, um ihr Innerstes nach außen zu kehren. Die übrigen Synthesizer-Spuren klingen rotzig und sperrig – der Opener ist trotzdem ein waschechter, kompromissloser Hit. Die sinistre Atmosphäre steigert sich mit ,Mandrill‘ noch zu purer muskelbepackter Elektronik, deren Energie sich in jedem einzelnen Beat eindrucksvoll entlädt. Das verspielte ,Capuchin‘ dient als Verschnaufpause, um mit ,Vervet‘ einen knapp neunminütigen Höhepunkt anzusteuern. Der Track klingt ein wenig so, als hätten Dubstep-Ingenieure Hand an die Tracks aus der „Ultra“-Zeit angelegt. Ein perfekter Sound für die Afterhour, die schließlich mit dem kurzen und zurückgelehnten ,Howard’s End‘ ausklingt. Perfekt, um den gleichnamigen Roman von E.M. Forster zu lesen.
MG kehrt mit fünf starken Tracks zurück, die in einer exzellenten Dramaturgie auf Platte gebracht wurden. Für das großartig abstrakte Cover zeichnet übrigens Pockets Wahrhol verantwortlich. Der 1992 geborene Künstler lebt in einem kanadischen Tierheim. Das Kapuzineräffchen liebt Handmalerei und hatte bereits Ausstellungen in Europa und Nordamerika. Gore betrachtet Pockets Warhol als gleichwertigen Kollegen. Darauf verweisen nicht nur die Titel der Songs, sondern auch der EP. Bereits in den 90er-Jahren las Gore Jared Diamonds interdisziplinäres Sachbuch „The Third Chimpanzee“, das den Menschen vom Sockel der Evolution stößt und ihn genetisch auf gleicher Stufe mit dem Bonobo und dem Schimpansen einstuft, wobei sich der Mensch allerdings weniger sozial als seine Artgenossen zeigt.
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