Von Stefan Pieper.
Die “Wege durch das Land” wollen beim gleichnamigen Literatur- und Musikfestival in Ostwestfalen auch zu Fuß gegangen werden. Die alljährliche gemeinsame Wanderung erfuhr in diesem Jahr wieder viel Publikumsresonanz. “Der Wald ist die erste Zeile, der Himmel seine Überschrift” – unter diesem Motto vereinten sich Lesungen von Gerhard Falkner und Lisa-Katrina Mayer, die sich der Prosa und den Gedichten von Sarah Kirsch angenommen hat. Aber alles wäre hier nichts gewesen ohne das leichtfüßige Musikantentum des Duo Aliada.
Und es gab noch mehr Akteure an diesem schwülwarmen Sommertag: Allen voran die schnatternden Gänse direkt auf einer Wiese neben dem uralten Hof Meyer zur Müdehorst, dessen mächtiger Fachwerkgiebel – typisch für diese Region – schon von weitem zu sehen ist. Die Betreiberin Dörthe Meyer zur Müdehorst hat hier mit Unterstützung der Deutschen Stiftung Denkmalschutz einen guten Kompromiss zwischen strenger Denkmalschutzbestimmung und heutiger, pragmatisch-sinnvoller Nutzung gefunden. An diesem Tag stand der historische Ort ganz im Zeichen der Kultur und dafür wurde auch Prominenz aufgeboten. Angesagt hatte sich Gerhard Falkner, dessen Gedichtband „Schorfheide“ in der Literaturszene als Ereignis gewertet wird. Sein Vortrag auf der kleinen Bühne vorm Hauptgebäude des Hofes betreibt eine „literarische Vermessung der Landschaft“ und transportiert einen Appell: Wenn Menschen sich nicht wieder für die Natur öffnen, bleiben schließlich nur Digitalnerds und Stadtneurotiker übrig. Um dem entgegen zu werden, verbindet Falkners oft etwas spröde Textlyrik eine kenntnisreiche Naturbetrachtung mit Reflexionen über die digitale Gegenwart. Man muss sich als Rezipient an dieser Materie schon abarbeiten. Die Erweiterung des eigenen Denkhorizont ist unmittelbarer Lohn der Mühe. Das Publikum bei den “Wegen durch das Land” zeigt sich an diesem Nachmittag dazu bereit.
Wo Worte enden, werden sie durch Musik „beantwortet“. Akkordeonspieler Bogdan Laketi lässt auf Falkners dichterische Appelle zunächst Schönbergs Sechs Kleine Klavierstücke folgen. Sie sind eine Art musikalisches Freiheitsbekenntnis, passend zum Motto der diesjährigen Festivalausgabe „Angst und Freiheit“. Chick Coreas „Childrens Songs“, jetzt im Duo mit dem Sopransaxofon von Michal Knot synchronisieren auf noch verspieltere Weise die Poesie mit der eigenen Fantasie. Aaron Coplands jazzige Trilogie „Three Moods“ versprüht eine Lebendigkeit, die hinaus in Landschaft und Natur zieht. Die Vollblut-Musiker, die soeben mit dem OPUS-Klassik ausgezeichnet wurden, können sich vermutlich alles einverleiben. Ihr großes Potenzial liegt vor allem darin, mit Sopransax und Akkordeon zu einem Instrument zu verschmduoelzen.
Die Wanderung als exklusives Kulturerlebnis
Dann geht es – in zwei Gruppen aufgeteilt – auf Wanderschaft durch den Teutoburger Wald. Schon kurz nach dem Abmarsch wirkt Falkners Gedankenwelt und beflügelt die eigene Reflexion über das Gesehene: In der Ferne, sanft eingebettet in grüne Hügel sind nur noch ein paar hohe Bauten der Stadt Bielefeld zu sehen, einem verkehrsmäßig aus allen Nähten platzende Ballungsraum. Aber der gerade eingenommene Standpunkt aus der Ferne verändert die Hierarchie zugunsten der Natur, macht die monströse Urbanität wieder klein. Was aber nur der erleben darf, der sich hinaus in die Landschaft begibt. Einer Wanderung haftet etwas Exklusives an.
Die Heuwiesen duften. Dann stehen sie wieder da, hinter einer Wegbiegung: Der Saxofonist und der Akkordeonspieler. Gershwins Preludes vermählen sich mit den gedämpften Naturgeräuschen. Gemütlich brummt eine Cessna am Himmel. Durch Wald und Flur geht es zur nächsten “Station” weiter. In weißem Kleid wie eine Erscheinung aus einer anderen Sphäre lässt die Schauspielerin Lisa-Katrina Mayer eine kleine Lichtung zur Bühne werden, um in Texten von Sarah Kirsch eine andere Spielart naturbezogener literarischer Gegenwart den Wandernden nahezubringen. Auch Sarah Kirsch übersetzt jede Form von romantischer Sichtweise in heutige Gedankenwelt, wozu bei dieser ostdeutschen Autorin auch viele politische Anspielungen gehören. Aber es bleiben Worte -so unmittelbar, wie das Plätschern eines Bachlaufes, das Knacken der Äste und vereinzelter Geräusche von Vögeln, die zu dieser Jahreszeit aber leider schon weitgehend verstummt sind.
An einem Bachlauf stellt das Duo Aliada mit Griegs lyrischen Stücken eine weitere, fast metaphysische Verbindung zur umgebenden Natur her. Diese Unternehmung macht etwas mit dem Zeiterleben. Nichts ist mehr so getaktet wie zuvor noch, wie dort in der großen Stadt, zu der hier eine wohltuende Distanz besteht.
Irgendwann im Lauf vieler entrückter Stunden verfärbt sich der weite Abendhimmel. Ein bemerkenswertes skurriles Bodendenkmal mitten auf der Heuwiese wird zur Konzert-Fläche. Hier liegen Grundmauern eines Klosters, das irgendwann um das Jahr 900 nie fertig gebaut worden ist. Auch diese „Landschaftsbühne“ bespielt das Duo Aliada, zunächst mit osteuropäisch gefärbten, tänzerischen, manchmal jazzaffinen Stücken. In polyphoner Pracht werden zwei Instrumente zur klingenden Architektur, zur Klang-Landschaft. Landschaft könnte unvergänglich sein, wenn wir aufhören würden, sie zu zerstören. Manche Musik ist de facto unvergänglich – zum Beispiel Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen, mit welchen das Duo Aliada den synästhetischen Erlebnissen dieses Tages ein Finale bereitet. Es wird dunkel und Insektenschwärme bereiten der Darbietung ein allzu jähes Ende. Zumindest hier unterm freien Himmel zeigt die Natur, wer letztendlich das Sagen hat. Die Heuwiesen duften weiter.
Wege durch das Land
Gegründet wurde „Wege durch das Land“ im Jahr 2000 von Brigitte Lab-Ehlert, seit 2016 leiten Helene Grass und Albrecht Simons von Bockum Dolffs das Festival gemeinsam. Heute ist das Literatur- und Musikfestival ein mächtiger Verbund, in dem eine ganze Region in Sachen Kultur an einem Strang zieht. „Die Dramaturgie der Veranstaltungen ist stets eng mit dem Ort verknüpft und so wird die Historie und das Besondere eines jeden Ortes für einen Tag durch Literatur und Musik, durch Stimmen und Instrumente deutlich“, lautet die selbst formulierte Intention bei allen Veranstaltungen, zu denen auch immer wieder Uraufführungen und Auftragsarbeiten gehören. Diese Mission ist an diesem Tag eindeutig erfüllt worden. Und sie markiert den Auftakt der zweiten diesjährigen Staffel.
Bis Ende September stehen noch zehn weitere Erkundungen, Konzerte, Lesungen in durchweg hochkarätigen Besetzungen auf dem Programm. Am 27. August gibt es eine „Sternstunde“ im wortwörtlichen Sinn: Vorm Schloss Wendlinghausen in Dörentrup liest der Schauspieler Alexander Khuon Nacht-Erzählungen von Guy de Maupassant und Franz Kafka, ebenso Gedichte von Matthias Politycki und Dylan Thomas – dazu musiziert das Monet-Quartett auf Oboe, Horn, Fagott und Klarinette.
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