Carlus Padrissa und die Theatergruppe La Fura dels Baus fordern uns mit ihrer vielschichtigen Inszenierung von Ernst Křeneks geschichtsphilosophischer Oper Karl V. heraus. An der Bayerischen Staatsoper beweist das Team aus Barcelona erneut, es ist State of the Art der modernen Musiktheater-Regie. Stephan Reimertz besuchte Generalprobe und Premiere der spektakulären neuen Musiktheaterproduktion in München und findet: Auf der europäischen Operbühne kann z. Zt. niemand dem katalanischen Regie-Team das Wasser reichen.
Haben Sie schon einmal einen Kapellmeister in Frack und Gummistiefeln gesehen? Erik Nielsen trat am Sonntagabend in die große Pfütze auf der Bühne des Nationaltheaters, um für sich und das Bayerische Staatsorchester den verdienten Applaus entgegenzunehmen. Zusammen mit dem Chor der Bayerischen Staatsoper und den fast zwanzig Solisten hatten die Musikanten eine Partitur gestemmt, die nicht gerade zu dem gehört, was man im Klavierunterricht in der ersten Stunde durchnimmt. Ernst Křenek legt mit Karl V., seinem Bühnenwerk mit Musik in zwei Teilen, ein Opus vor, das sowohl musik- als auch geistesgeschichtlich zu den anspruchsvollsten seiner Gattung gehört.
Barocke Allegorie als Zwölftonkomposition
Wie im Falle von Richard Wagner und anderen Ausnahmefällen des modernen Musiktheaters tritt der Komponist als sein eigener Textdichter auf. Das Libretto, das Ernst Křenek selbst schreib, ist auch ohne Musik die Lektüre wert. Wer vermutet, Křenek könnte seine Oper über den Kaiser in einigen dramatischen Szenen zugespitzt haben, etwa wie Giuseppe Verdi in seinen Schiller-Opern, der irrt. Křenek gibt sich fern der deutschen Klassik ganz und gar als Erbe der katholischen Barockkultur und führt uns seinen Kaiser Karl in Form eines lehrhaften und allegorischen Spiels vor. Damit ist er nicht weit von Hugo von Hofmannsthal entfernt, der in Mysterienspielen wie Der Thor und der Tod und Jedermann den Menschen in seiner letzten Stunde noch einmal mit den zentralen Figuren seines Lebens konfrontiert und dasselbe im Zeitraffer am Sterbenden vorbeiziehen lässt.
Leben, die nicht heilenden Wunde
Während Hofmannsthal später von der Zusammenarbeit mit Richard Strauss profitierte und immer stärker die Fähigkeit entwickelte, einen Stoff wie aus einem Guss zu poetisieren, hat es Ernst Křenek der Dichter dem Komponisten Ernst Křenek alles andere als leicht gemacht. Seit Textbuch ist so zusammengestückelt und undramatisch, dass es einem bei der Lektüre graust und man sich fragt, wie einer dergleichen überhaupt komponieren kann. Křenek allegorisiert das Leben des Kaisers in zwei Abschieden; dem Moment seiner Abdankung und jenem seines Todes. Kaum je hat man auf der Opernbühne solche phantastischen, intelligenten und beziehungsreichen Kostüme gesehen wie jene von Lita Cabellut, die auch für Bühne und Videokonzept verantwortlich zeichnet. Sie stellt uns Karl mit stilisierter Irokesenfrisur in dem imaginären Gewand eines Maja- oder Aztekenkönigs vor und zeigt damit die Fähigkeit dieser Inszenierung, immer auch die Gegenspieler der jeweiligen Figur mitzudenken. Dabei erschöpft sich der Regieansatz mitnichten in einer historischen Anspielung auf die Tatsache, dass Karl als Erbe der spanischen Krone auch die überseeischen Gebiete erhielt und damit als Erster und Letzter über ein Reich herrschte, in dem die Sonne niemals unterging. Vielmehr zeigt die inspirierte Produktion den Kaiser im Indianerkostüm in einer Art von Nacktheit als Mensch einer Welt, in der, mit Karl Kraus zu sprechen, die Sonne niemals aufgeht.
Reichsoper im Gewand der Avantgarde
Bo Skovhus ist als Karl V. permanent auf der Bühne und beherrscht den Abend mit seinem Klagegesang der Vergeblichkeit alles menschlichen Tuns, mit seinem Nicht-Sterben-Können. Ernst Křenek hat mit seiner Titelfigur eine erschütternde Bühnengestalt geschaffen, einen Amfortas in historischer Konkretion. Es bedarf eines besonderen Typus des Sänger-Darstellers, um den gesteigerten musikalischen und szenischen Herausforderungen gerecht zu werden, die der Autor stellt. Okka von der Damerau als Karls Mutter Johanna die Wahnsinnige, Gun-Brit Barkmin als seine Schwester Eleonore und Anne Schwanewilms als seine Gattin Isabella bilden das weibliche Triumvirn, das den Kaiser auf seinen abenteuerlichen inneren Fahrten begleitet; sie sind zugleich Verstärkungen seiner Figur wie auch Gegenfiguren. Nun lässt Ernst Křenek die historischen Mit- und Gegenspieler Karls V. aufmarschieren. Zuförderst Martin Luther; Michael Kraus gibt den Ketzer in seinem ganzen kalten Zynismus. Der Sänger tritt vor den Orchestergraben und verleiht dem Kirchenspalter eine schnarrende, verachtungsvolle Rede. Man spürt, daraus kann nichts Gutes erwachsen und ist geneigt, Karls Beichtvater Juan de Regla (Janus Torp in einer Sprechrolle) und dem Jesuiten Francisco Borgia (vollblütig: Scott MacAllister) Recht zu geben, die Karls nachsichtige Behandlung des Ketzers für einen historischen Irrtum halten.
Musik im Klartext
Der Dichter-Komponist lässt in seiner geschichtsphilosophischen Oper keinen Zweifel daran, dass er einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Hass des Kirchenspalters und jenem der Landsknechte sieht, die hier – Anfang der dreißiger Jahre –, ohne Umschweif als Präfigurationen nationalsozialistischer Banden gezeichnet werden. Nachdem man durch ein halbes Jahrtausend angehalten war, die Ketzer mit rhetorischen Samthandschuhen anzufassen, tut es wohl, wenn Křenek in Text und Musik Tacheles redet und das Verdammte verdammt. Gemessen an dem kalten diabolischen Grauen, das seine Luther-Figur ausstrahlt, sind Gegenspieler wie Franz I. von Frankreich (virtuos: Wolfgang Ablinger-Sperrhacke) und Sultan Soliman (subtil: Peter Lobert) von nachgerade anekdotischem Charakter. Auch hier findet die Regie ebenso phantasievolle wie historisch sinnfällige Kostüme und Auftritte. Křenek hat jahrelanges Quellenstudium auf sich genommen und sein Libretto zudem noch einmal ganz und gar umgeschrieben, um das historische Material auf den Punkt zu bringen. So treten die geschichtlichen Größen zugleich als Menschen aus Fleisch und Blut wie als historische Abstraktionen auf. Das Libretto führt zwei Ebenen andauernd parallel: Die poetische Konkretisierung und die Diskussion und Interpretation des Stoffes. Dass es überhaupt gelingen konnte, eine so diverse Anlage zu einem Werk aus einem Guss zu verschmelzen, gehört zu den Wundern dieses Bühnenwerkes.
Die Opernrevolution von La Fura dels Baus
Carlus Padrissa und die Theatergruppe La Fura dels Baus haben ein neues Kapitel in der Musiktheaterregie aufgeschlagen. Sie haben eine Revolution der Oper angezettelt, wie man sie nur mit jenen von Max Reinhardt und Wieland Wagner vergleichen kann. Wie schon vor wenigen Wochen in der Felsenreitschule in Salzburg bei Mozarts Thamos präsentiert die Truppe aus Barcelona in München wiederum eine Opernperformance eigenen Stils. Ausgehend von dem im Text genannten Gemälde La Gloria (Das Jüngste Gericht, 1551-52) von Tizian bietet La Fura dels Baus eine Bühne, die sich in permanenter Veränderung befindet und in jedem Moment die vielgestaltigste und vieldeutigste Ikonographie hervorschleudert. Dabei arbeitet das Team mit mehrfachen Spiegelungen; außer den ständig verschobenen Spiegeln im Bühnenraum haben wir es auf dem Bühnenboden mit einer großen Pfütze zu tun, welche einerseits als Metapher für das Atlantische, aber auch das Dahinfließende von Karls Reich, andererseits als Verdoppelungen des Bühnenbildes im Hintergrund dient. So erfasst der Zuschauer die revolutionäre Inszenierung am besten von einem der Ränge, während von der Galerie aus das hintere Bühnenbild, vom Parkett aus der Wasserspiegel unsichtbar bleibt.
Europäische Vision, Warnung und Verpflichtung
Wenn Kapellmeister Erik Nielsen wie alle anderen in Gummistiefeln zum Schlußapplaus antritt, heimst er Jubel dafür ein, wie er mit dem Staatsorchester hart strukturiert und doch subtil eine Partitur zum Klingen gebracht hat, mit der es sich Ernst Křenek ebenso schwer machte wie mit seinem Text. Die zugrundeliegenden Zwölftonreihen dienen dem Komponisten als Strukturelement und Widerstand, ähnlich den Steine im Mund des Demosthenes, mit denen der Stotterer sich zum großen Redner bildete. Denn Křenek ist kein Midas wie Alban Berg, dem alles, was er anfasst, zum Wohlklang gerät. Er muss sich dieses große Werk abringen, doch dafür geriet Karl V. zu deutschen Reichsoper, welche wie keine andere die übernationale europäische Vision des föderalen österreichischen Ständestaates wie der Habsburger verherrlicht und zugleich vor nationalen Horden warnt.
Bilanz des Menschen, Bilanz des Reiches
La Fura dels Baus lässt in der glanzvollen neuen Inszenierung keinen Zweifel daran, dass die Regie-Truppe den Nationalismus mitnichten als ein überwundenes Phänomen betrachtet. Die Oper steckt zudem ebenso voller Kritik am Goldrausch der Renaissance und am zeitlosen Materialismus: »Wie ist die Welt verarmt, seit du sie reich gemacht.« Sie stellt das Drama eines Menschen ins Zentrum, der Übermenschliches versuchte und doch fehlte: »Warum gab Gott mir solchen Auftrag und nicht die Kraft, ihn zu vollenden?« Und sie scheut sich nicht, den Zuschauer mit einem Appell zur europäischen Humanität zu entlassen: »Doch bleibt uns ewig aufgegeben, was er heldenhaft versuchte.«
Übertragung Karl V.
Samstag, 23. Februar 2019 ab 19 Uhr im Rahmen von STAATSOPER.TV kostenlos und in voller Länge.
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