Ein Anti-Siegfried spielt mit Erfolg den Helden. Brünnhilde kann nur noch trällern. Am meisten geliebt wird – Alberich. Die Regie löst sich nach und nach in ihre Bestandteile auf. Das Festspielhaus wird zum Affenhaus. Cornelius Meister verdient sich wiederum seinen Namen. Von Stephan Reimertz.
Sie machen gerade Urlaub in Apulien, da klingelt das Telefon. Kathi ist dran. Drei Tage später stehen sie statt vor dem Sonnenuntergang in Bari vor dem frenetischen Applaus in Bayreuth. So ging es Clay Hilley, der seinem Beruf, Heldentenor, auf doppelte Weise gerecht wurde, als er für den erkrankten Siegfried (Stephen Gould) einsprang. Das müssen Sie erst einmal nachmachen: Der Sänger soll sich in einer ihm vollkommen fremden Regiearbeit zurechtfinden. Hilley entledigte sich der Herausforderung mit Bravour. Aufs präzise Agieren freilich kommt es in dieser Regie eines blutjungen Wienerischen Caféhaus-Jesus mit sanften Augen und langem Haar eh nicht an. Vielen Besuchern hat dabei gut gefallen, wie der untersetzte Sänger, der so gar nicht dem germanischen Schönheitsideal entspricht, die Rolle schon mit seiner Erscheinung konterkariert und ihr damit eine weitere interessante Dimension verleiht. Vielen Dank, Mr. Hilley!
Das hält auch die stärkste Walküre nicht aus
Das Bayreuther Publikum ist vieles, nur nicht wohlerzogen. Zwar erhielten die Sänger begeisterten Applaus. Besonders schlossen alle Olafur Sigurdarson ins Herz, den kleinen Alberich mit Glatze, langem Bart und gewaltiger Stimme. Als Brünnhilde alias Iréne Theorin vor den Vorhang trat , mischten sich bereits ein paar Buhrufe in den immer noch dominanten Applaus. Ihre Erschöpfung am Ende spricht indes für die Sängerin. Diese Regie hält auch die stärkste Walküre nicht aus. Einige Besucher buhten selbst Kapellmeister Cornelius an und zeigten damit, sie haben Wagners Schriften über das Dirigieren im allgemeinen und im Bayreuther Graben im besonderen nicht gelesen. Die musikalische Prosa, die Meister mit dem Bayreuther Festspielorchester entfaltete, entspricht nämlich genau dem, was der Komponist sich gewünscht hat. Von den Nornen soll hier wenigstens Okka von der Damerau erwähnt sein. Wenn drei Nornen zusammenstehen, ist Okka immer die größte. Beim Klassik Open Air der Festspiele zeigte die Norddeutsche sich gar als Komikerin in der Folge von Mae West mit viel Selbstironie, während der Moderator des BR die Peinlichkeitsgrenze nie überschritt – zum Unpeinlichen.
Chaotische Regie, auch der Zuschauerraum wird zum Chaotenhaufen
Als mehr als peinlich indes empfanden so gut wie alle Besucher die Regie. Als das Produktionsteam vor den Vorhang trat, wurde das Festspielhaus zum Affenhaus. Wenig fehlte, und die Atmosphäre hätte an die Uraufführung mancher Russischen Ballette unter Sergej Diaghilew im Paris der Zwanziger Jahre erinnert, die im Zuschauerraum sogar in Prügeleien geendet haben sollen. Beleidigungen wie »Dumme Tussi!« usw. indes waren in Bayreuth durchaus zu hören. Das Regieteam hatte im ganzen Haus wohl nur eine Handvoll Unterstützer, die unter Gefahr für Leib und Leben lautstark applaudierten. Das Ereignis des Premierentages war weniger die Vorstellung, denn diese war schwerlich als solche zu bezeichnen, sondern das Affentheater danach, das man eher im Fußballstadion erwartet hätte. Die zivilisatorische Schicht ist doch eher eine dünne. Während der voraufgehenden Teile des »Rings« konnte man zunehmend eine solche Entwicklung erwarten. Wir haben in unseren Besprechungen der »Walküre« und des »Siegfrieds« Zusammenfassungen der Familiengeschichte gegeben, welche Regisseur Schwarz Wagners »Ring des Nibelungen« überstülpt. Es lohnt sich jedoch nicht, dies hier fortzusetzen.
Musikalische Prosa als Kommentar des Mythos
Cornelius Meister gewann im Laufe der Aufführungen mit dem Festspielorchester noch an Tiefe und Kontur. Dies schien einigen »Musikkritikern« indes nicht einzuleuchten. Dabei ist Richard Wagners Schrift »Oper und Drama« an jeder Ecke im Reclamheft erhältlich. Daraus könnten die »Experten« auch die Aufgabe des Sänger-Darstellers im modernen Musikdrama entnehmen. Wagners Opern handeln zwei Mal von Gesangswettbewerben; sie sind aber selbst kein solcher. Dies könnte vermuten, wer die offiziösen »Musikkritiken« liest. Dort wird über Sänger und ihre Leistung schwadroniert, als handle es sich um Belcanto-Opern der 1830er Jahre. Dieser »Ring« ist nur ein Symptom. Offenbar ist unsere Gesellschaft am Ende und bedarf einer Neuorientierung. Wagner hat den »Ring« geschrieben, um eine gesellschaftliche Neuorientierung zu initiieren. Zu dieser freilich sollte das Theater selbst sich zuerst besinnen: Regisseure werden künftig danach verpflichtet, ob sie zur Arbeit geeignet, nicht, ob sie auf einem anderen Gebiet bekanntgeworden oder sich durch Zugehörigkeit zu einem bestimmten Milieu »auszeichnen«. Alle Beteiligten werden auf drei Prinzipien verpflichtet: Werktreue, Werktreue, Werktreue. Der Geist Wieland Wagners wird beschworen im Sinne einer neuen radikalen Entrümpelung und der Nutzung moderner Bühnentechnik, etwa der Lichtregie.