Rezension von Barbara Hoppe.
Es war an einem kalten Februartag, als Victoria Mas vor einem der berühmtesten Krankenhäuser von Paris – dem Hôpital de la Salpêtrière – auf einen Freund wartete. Sie schaute auf alte Backsteingebäude, denen man Neubauten hinzugefügt hatte. Der Zentraleingang war so lang wie ein Boulevard, am hinteren Ende begrenzte ein alter Flügel des Krankenhauses einen großen Park. Hier starb Prinzessin Diana nach ihrem Unfall. Viele Jahre vor zuvor war das Haus ein noch viel größerer Ort des Schreckens und stand vor allem für eines: Die untergeordnete Rolle der Frau in Frankreichs Gesellschaft.
Im 17. Jahrhundert unter dem Sonnenkönig Ludwig XIV. gebaut, diente das Haus zunächst als Krankenhaus der besonderen Art. Jede Person, die man nicht auf den Straßen von Paris sehen wollte, wurde hier weggesperrt: Arme und Kranke, Prostituierte , Geisteskranke, Epileptiker, Depressive. Bis zu 8.000 Menschen vegetierten in diesem Moloch vor sich hin, meist Frauen. Erst Ende des 18. Jahrhunderts endete die Zeit der Zwangsbehandlungen und eine Entwicklung hin zu Heilung von Nervenleiden statt Verwahrung setze ein. Freilich immer noch keine Behandlung im heutigen Sinne. Noch weitere hundert Jahre sollten vergehen, bis das Haus zum Zentrum einer gynäkologisch definierten Hysterie wurde und der Neurologe Jean-Martin Charcot dort wirkte.
Es ist diese Zeit, in der Victoria Mas ihren Debütroman spielen lässt. Eine Zeit, in der unter Charcot die so genannten Hysterikerinnen ihre großen öffentlichen Auftritte hatten. Vor einem mehrere hundert Menschen umfassenden Auditorium ließen sie sich hypnotisieren (oder auch nicht) und bedienten den Voyeurismus der Zuschauer mit einer perfekten Hysterie-Show. Doch es gab noch eine andere Attraktion. Einmal im Jahr, Mitte März, rief man zum „Bal des folles“ – dem Ball der Verrückten. Er war das Ereignis der Stadt, geehrt durfte sich fühlen, wer eingeladen war. In bunten Kostümen und Kleidern feierte die Haute Volée mit den Kranken, gierig darauf, den nächsten Anfall und den Grusel verdrehter Augen und Glieder zu erleben. Bis Anfang des 20. Jahrhundert das Treiben ein Ende hatte. Der Ball geriet in Vergessenheit.
Victoria Mas zerrt dieses dunkle Kapitel der Medizingeschichte wieder ans Licht. Ihr Roman macht deutlich, in welcher Abhängigkeit man Frauen hielt: Abhängig vom Ehemann oder Vater, meist mäßig bis gar nicht gebildet, ohne Möglichkeit, einen normalen Beruf zum Broterwerb auszuüben. Wurden sie unbequem – sei es durch Krankheit, durch Aufbegehren oder Trotz – entsorgte man sie schnell in der Salpêtrière, wo sie in der Regel nie mehr herauskamen. Schlimmer noch: die männliche Ärzteschaft machte sie zu Objekten des Voyeurismus und der medizinischen Versuche, bei denen mehr als fragwürdige Behandlungsmethoden im Genitalbereich der Frau vermeintlich Linderung bringen sollten.
Im Mikrokosmos der Salpêtrière legt Victoria Mas das Brennglas auf die gnadenlose Unterdrückung der Frau und macht die Leser zu Komplizen der Voyeure. Wir schauen in den Schlafsaal der vermeintlich Verrückten, die – auch das muss erwähnt werden – hier häufig erstmals ein Zuhause gefunden haben. Bei diesem Blick in die Geschichte wundert es nicht, dass die französische Presse die literarische Aufarbeitung dieser Zustände hymnisch feiert. Der Roman erhielt bereits mehrere Preise, schoss in den Bestsellerlisten nach oben, verkaufte sich in 12 Länder und wird demnächst verfilmt. Doch der Verdienst, dem „Bal des folles“ ein würdig unwürdiges Denkmal zu setzen, untergräbt Victoria Mas mit einer allzu vorhersehbaren und banalen Geschichte. Neben der Schar von berühmten Ärzten wirkt auch Geneviève in der Salpêtrière, eine ältere, respektierte wie gefürchtete Krankenschwester, die den Kranken keinerlei Gefühle entgegenbringt. Als die junge, hübsche, nach Freiheit strebende und intelligente Eugénie gegen ihren Willen von ihrem Vater eingewiesen wird, gerät Genevièves Seelenleben durcheinander. Was folgt ist – im Einklang mit einigen stereotypen Nebendarstellern – eine sprachlich wie inhaltlich recht flache Geschichte, die wie ein Alibi wirkt, um dem Kernthema einen Rahmen geben zu können. Doch ob es für die Wiederentdeckung des „Bal des folles“ ausgerechnet dieser Geschichte bedurfte, sei dahin gestellt. Und ob der Roman den von der Autorin in einem Interview erklärten Bogen zu der heute immer noch ungleichen Behandlung von Männern und Frauen schlagen kann ebenso.
Victoria Mas
Die Tanzenden
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