Die Stadt Marl am Nordrand des Ruhrgebietes ist eigentlich „nur“ eine etwas größere Kleinstadt. Aber seit den 1960er Jahren wurden hier viele architektonische und städteplanerische Visionen verwirklicht. Eines der spektakulären Resultate ist die Scharoun-Aula, ein Highend-Konzertsaal, der zum umgebenden Schulkomplex gehört, in der heute die örtliche Musikschule residiert. Der Name ist Programm: Alles wurde in den 1960er Jahren vom Star-Architekten Hans Scharoun konzipiert und ist vom baulichen und akustischen Konzept her ein kleiner Bruder der Berliner Philharmonie.
Ein architektonisches und akustisches Kleinod
Früher haben hier Größen wie Yehudi Menuhin und Friedrich Gulda gespielt – später wurde es hier stiller. Aber nach einer aufwendigen Renovierung tut sich wieder mehr. Im Frühjahr debütiert die überregionale Reihe FineArtJazz an diesem architektonisch-funktionalen Kleinod. Vor allem aber punktet die Scharoun-Aula als Heimat des städtischen Konzertlebens, welches mit internationalen Gastspielen und dem bereits seit 55 Jahren veranstalteten Marler Debüt (für die Bundespreisträgerinnen und -preisträger Jugend musiziert) auch regelmäßig eine handverlesene Auswahl der Allerbesten aus dem ARD-Wettbewerb präsentiert. Das Londoner Barbican String Quartet hat beim jüngsten Konzert an diesem Ort noch einmal neue Maßstäbe gesetzt.
Klar ist vom ersten Moment: Im Spiel dieses Quartetts lebt ein beglückendes künstlerisches Verständnis. 2015 in London gegründet, hat das Streichquartett die internationalen Bühnen erobert, natürlich zahlreiche Auszeichnungen inklusive. Ein erster Preis beim renommierten ARD-Wettbewerb komplettierte die Sammlung. Das soll etwas heißen anlässlich einer durchweg hochmotivierten und bestens geförderten Konkurrenz, die im Herbst 2022 im Münchener Prinzregententheater antrat.
Es geht um Konsens
Schon Mozarts beschwingtes Streichquartett KV 575 zeigt, welch überlegener Konsens zwischen Amarins Wierdsma (Violine), Kate Maloney (Violine), Christoph Slenczka (Viola) und Yoanna Prodanova (Cello) herrscht. Das durchweg leichtfüßige, aber auch kantabel-schwelgerische Spiel lässt zwar noch eine gewisse Vorsicht erkennen, wo -zugegebenermaßen – vielleicht so manches Wagnis weitere Tore öffnen könnte, um noch mehr in Mozarts Hintergründigkeit hinein zu ziehen. Aber die Mitglieder des Barbican Quartets haben ja noch viel Zeit für ein künstlerisches Lebenswerk vor sich.
Vielleicht machte es auch Sinn, zu Beginn des Konzerts nicht sofort alles Pulver zu verschießen. Das darauf folgende zweite Quartett von Leoš Janáček mit dem Untertitel „intimate letters“ geht aufs Ganze. Auch dieses aufregende Stück Musik aus den 1920er Jahren ist viel zu selten auf Konzerten zu hören, vermutlich wegen der nach wie vor herrschenden Paranoia des bürgerlichen Kulturbetriebs gegenüber „moderner“ Musik, von der ja sogar 100 Jahre alte Kompositionen betroffen sind. Das Barbican Streichquartett demonstriert, dass solche Vorbehalte nicht gerechtfertigt sind, wenn man nur beherzt genug die tiefe Wahrheit in dieser Musik entfesselt. Inspirationsquelle war eine Sammlung aus Liebesbriefen, die Janáček sein Leben lang einer Angebeteten geschrieben hat und wo eine Komposition zur Echokammer einer wilden emotionalen Achterbahnfahrt wird – voller Ambivalenzen und Risse an der Oberfläche, aber auch mit genug Inseln von Glückseligkeit und stürmischer Schwärmerei. Und ja – die spieltechnisch akrobatische, aber extrem blickende Deutung des Barbican Quartetts holte auch verborgenste Geheimnisse dieser „Obsessions-Musik“ an die Oberfläche.
Klänge, Farben und Fantasie fließen im Raum…
Der begehrte Preis beim ARD-Wettbewerb hatte auch eine aktuelle Auftragskomposition für das Barbican Quartet nach sich gezogen. Die vielbeschäftige bulgarisch-britische Komponistin Dobrinka Tabakova widmete dem Barbican Quartet ein neues Stück namens „The Ear of Grain“, welches in der Diktion der Neuen Musik wurzelt, aber wo auch Zitate aus bulgarischer Volksmusik den emotionale Spannungsbögen bereichern.
Tabakovas Komposition ist von einem Gemälde des spanischen Surrealisten Joan Miró inspiriert, die wiederum auf einer schrägen Märchenstory beruht, die vor der Aufführung auch verlesen wurde. Diese Erklärung mag als Hilfsmittel taugen – aber dann öffnen die sinnlich-dissonanten Klangflächen im Spiel des Quartetts Tore zur eigenen, frei fließenden Fantasie. Was sich in diesem Moment zwangsläufig mit der sinnlichen Erfahrung dieses Raumes vereinte, wo sich Architektur und akustische Gegebenheiten plus einer innovativen Licht- und Farbregie (Lichdesign Melanie Drüke) synästhetisch ergänzen.
Das Barbecan-Quartet definiert seinen angehenden Weltklasse-Standard allein durch einen individuell identifizierbaren Klangcharakter. Die Kür über die Pflicht besteht darin, so etwas flexibel jedem noch so konträren Sujet angedeihen zu lassen. Extrem überlegen wirkt, wie das Quartett zum Finale wieder auf etwas völlig anderes umswitcht: In Schumanns Quartett A-Dur ist sie wieder da – diese geschmeidige Behutsamkeit, diese fast haptische Achtsamkeit vor dem Notentext. So als würden empfindsame Hände hier etwas ganz Kostbares berühren, aber auch mit beherztem Willen für die Intensität des Moments ausgestalten. Jeder Satz eröffnet ein neues Szenario und blickt weit in die musikalische Zukunft. Romantik, hinreißende Schönheit, Walzer-Anklänge, aber auch kollektive virtuose Parforceritte in temperamentvoller Verdichtung – so, als wenn es kein Morgen gebe. So wirkt es manchmal, wenn sich Amarins Wierdsma, Kate Maloney, Christoph Slenczka und Yoanna Prodanova mit ganzem Körpereinsatz in Rage spielen. Für fast alle Komponisten waren Streichquartette die freieste, innovativste kompositorische Form, bei der man auf so wenig wie möglich Rücksicht nehmen musste. Auch Schumann agiert hier wie ein wahrhaft Besessener. Ebenso wie das Barbican Quartet, das in der Marler Scharoun-Aula perfekte „Arbeitsbedingungen“ vorfand.
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