Unser Autor Stephan Reimertz durfte sich am Donnerstag zu den Happy Few zählen, die noch in die Premiere der Anna Bolena im Staatstheater am Gärtnerplatz eingelassen wurden. Die Oper über die letzten Tage der zweiten Frau von Heinrich VIII. spielte sich in einer denkwürdigen Atmosphäre ab. Auch die Zuschauer schlugen sich tapfer.
Sowohl die Wiederentdeckung dieser eruptiven Oper von Gaetano Donizetti als auch das Werk selbst verdanken wir jeweils einer Diva. Was Maria Callas für ihre Zeit war, das bedeutete die vielgemalte Giuditta Pasta der Epoche von Rossini, Bellini und Donizetti. Ja, mehr noch: Der Komponist schrieb die lyrische Tragödie über das Ende der zweiten von sechs Ehefrauen des englischen Königs Heinrichs VIII. in Donna Giudittas Anwesen am Comer See. Die Gesellschaft war eben kleiner und überschaubarer als heute: und darum effizienter, denn es ergaben sich vielerlei synergetische Effekte. Auch die Callas konnte das Repertoire noch nachhaltig beeinflussen; ihr verdanken wir die Wiederentdeckung großer Teile der italienischen Oper des frühen neunzehnten Jahrhunderts. Das Wort »Belcanto« freilich hat mehr Schaden angerichtet als Hunderte von sinnwidrigen Inszenierungen.
Auch das Publikum gibt sein bestes
Nein, nein; das ist kein bel canto, wenn Jennifer O’Loughlin als Anna Bolena ihrem unabwendbaren Ende widerstrebend entgegenstolpert. Die Premiere am Münchner Staatstheater am Gärtnerplatz am vergangenen Donnerstag stand ganz in der Tradition der verdienstvollen Donizetti-Pflege dieses Hauses; Feuilletonscouts erinnern sich möglicherweise noch an unsere Besprechung des Don Pasquale in der Inszenierung von Brigitte Fassbaender oder der Maria Stuarda – womit wir beim Thema der geköpften Königin wären. Da mindestens einmal im Jahr eine neue Sophie-Scholl-Film herauskommt, können Sie sich selbst, zumal als Dame, fragen, in welcher Haltung Sie aufs Schafott steigen würden. Jene der Anne Boleyn war bewunderungswürdig, und Donizetti setzt ihr in seiner Oper dreihundert Jahre später ein Denkmal.
Die zwei Soprane
Primadonna O’Loughlin macht uns Anne Boleyn in ihrer ganzen charakterlichen Komplexität erlebbar, ebenso wie in ihrer Verzweiflung und Todesangst, aber auch in unglaublichem Großmut gegenüber ihrer Konkurrentin um die Gunst des Königs. Margarita Gritskova gibt die stimmlich gleichstarke Giovanna Seymour; und mit den beiden überragenden Sopranen haben für diesen ungewöhnlichen Opernabend am Gärtnerplatz bereits die halbe Miete im Kasten. Die beiden Sängerinnen wurden vom Publikum des öfteren mit verdientem Szenenapplaus bedacht; und an dieser Stelle sei gelobt: das Publikum, coronabedingt auf 25% zusammengeschrumpft, hat sich seinerseits gut geschlagen und alles getan, den Mitwirkenden Applaus in gewohnter Lautstärke zu servieren.
Weniger ist mehr
Leider war King Henry VIII. – von Donizetti wie alle Figuren gnadenlos italianisiert; hier zu Enrico VIII. – mit Sava Vemić nicht ganz ideal besetzt; dem Sänger-Darsteller fehlt jede Vorstellung davon, wie sich königliche Personen bewegen und wie sie dastehen; und das, obgleich es in München nicht an royalem Anschauungsmaterial mangelt. Agogisch hätte er eher als Hausmeister des Königs auftreten können denn als dieser selbst. Freilich machte Vemić den Mangel durch ein imponierend starkes und vielschichtiges Bassorgan mehr als wett. Geschrumpft war nicht allein das Publikum; auch die Orchesterfassung wurde als »reduziert« angekündigt und die Aufführung als »halbszenisch«.
Dreimal geschrumpft
Die drei Reduktionen – in Inszenierung, Orchester und Publikum – resultierten nun in sehr unterschiedlichen Effekten und in einem frappanten Gesamteffekt: Mit reduzierten Orchesterfassungen hat man am Gärtnerplatz gute Erfahrungen gemacht, Tanztheaterexperimente wie Romeo & Julia nach Prokofjew oder das abgespeckte Mahlerorchester dies Jahr in der Undine von Ballettchef Karl Alfred Schreiner haben es bewiesen. Stets wird ein besonderes Charakteristikum der Partitur damit herausgearbeitet, das im Vollklang unterzugehen droht.
Wesentliches wird herausgearbeitet
Auch die horizontal zusammengestrichene Orchesterfassung, die Tony Burke von Gaetano Donizettis Partitur der Anna Bolena anfertigte, belehrt uns über ein musikgeschichtliches Moment dieses Werkes, das wir ansonsten möglicherweise unerhört gelassen hätten: Im Grunde ist diese Oper ein einziges accompagnato; vergessen wir nicht, wie hier ein noch nicht ganz so bekannter Opernkomponist für eine weltberühmte Diva schreibt. Mit dem singenden, sagenden und subtil durchgearbeiteten Orchesterkommentar sind wir freilich bereits mitten im modernen Musiktheater oder doch auf dem Weg dorthin. Richard Wagner hat nie ein Problem damit gehabt, zuzugeben, was er dem Maestro aus Bergamo verdankt. Kapellmeister Howard Arman bietet uns zusammen mit dem Orchester des Staatstheaters ein abstrahiertes und gerade darum so charakteristisch skizzenhaftes Orchestralfundament, auf dem Stimmen und Darsteller sich theatralisch entfalten.
»Staging« statt Regie?
Spielleiter Maximilian Berling nennt seine halbszenische Aufführung lieber »Staging« als Regie oder Inszenierung. Das ist zuviel Understatement. Eher führt Berling mit den vom Notenständer ablesenden Sängern ein Moment des Metatheaters ein, wie es schon in den sechziger Jahren vom Avantgardetheater verwandt wurde, man denke nur an Viet Nam Diskurs oder Die Ermittlung von Peter Weiss. Wird dort der dokumentarische Charakter betont, so hier die Werkstattnatur der Inszenierung, wobei freilich offen bleibt, ob es sich um Regieidee oder Coronamaßnahme handelt. Das Bühnenbild besteht lediglich aus der Projektion von Fenstern im gothic style und einer auf und ab schwebenden Krone. Die Kostüme von Inge Schäffer sind höchst konventionell geratene Renaissancegewandungen, die sich eher als Zitate der Theatertradition denn der Geschichte geben.
Originalkleid vs. Theaterkostüm
Ich erinnere mich noch, welcher Schauer mich anwehte, als ich als Kind vor dem originalen schwarzen und schlichten Kleid stand, das Anne Boleyn sich eigens für ihre Hinrichtung anfertigen ließ. Solches Charisma vermochten die Kostüme am Donnerstag abend selbstverständlich nicht zu entfalten. Die frugale Besetzung des Zuschauerraumes nun wiederum erinnerte an eine Kostüm- oder Hauptprobe. Bei solchen Gelegenheiten freilich hocken wir in Grüppchen zusammen und werden nicht strategisch über das Theater verteilt. In der Pause steht man dann beieinander, während jetzt wenige Leute einzeln oder in Paaren durch die leeren Gänge und Foyers hatschen. Insgesamt konnte dem Abend nur etwas Gespenstisches eignen, und dies verband sich mit dem erklärten Willen des Gärtnerplatztheaters, die Erinnerung an Hauptwerke des Musiktheaters wachzuhalten, zu einem Gefühl der Zeitmaschine. Manchem war, als könne er sich in die Puppenkistenjahre des bayrischen Komedi-Spielens zurückkatapultieren, als man zu jeder Oper, die am Gärtnerplatz lief, gleich nebenan am Münchner Marionettentheater des Papa Schmidt umgehend die passende Parodie mit dem Kasperl Larifari mittendrin geliefert bekam, die noch dazu von dem für das Theaterwesen zuständigen Hofbeamten selbst geschrieben war, Exzellenz von Pocci.
Revolutionsjahr 1830, ein Jahr der Ungleichzeitigkeiten
Das Jahr 1830 war in der Geschichte der Oper ein annus mirabilis. Ende August sprang ein Funke aus dem Opernhaus auf die Politik in einer explosiven Weise über, wie es dies weder zuvor noch nachher je gegeben. Die Aufführung der Muette de Portici von D. F. E. Aubert in Brüssel peitschte die Besucher auf. Sie strömten auf die Straße und entfachten eine Revolution, in der sie die Fremdherrschaft der Calvinisten abschüttelten und den belgischen Staat gründeten. Bereits im März hatte Vincenzo Bellinis Romeo-und-Julia-Vertonung I Capuleti e i Montecchi am Fenice Uraufführung, und am Stephanitag folgte am Teatro Carcano in Mailand unsere Anna Bolena. Spielt das Schneegestöber in der Münchner Inszenierung darauf an? Beider auf englische Stoffe zurückgehenden Libretti schrieb Felice Romani, und man kann dem Routinier zugestehen, psychologisch plausible und dramaturgisch solide gezimmerte Opernvorlagen abgeliefert zu haben. Griff er für Bellini auf Shakespeares sprichwörtliche Liebestragödie aus Verona zurück, diente ihm für Donizetti nicht etwa eine Biographie Heinrichs VIII. oder Anne Boleyns als Vorlage, sondern eine Tragödie des Venezianers Alessandro Pèpoli.
Moderne Konflikte im historischen Kostüm
Bellini und Donizetti – : Bis heute bilden le due meteore del bel canto italiano Stoff für hitzige Pausengespräche im Opernfoyer. Jenen sollte der frühe Tod ereilen, diesen eine chronische Krankheit plagen, gegen die sich stemmend er sein umfangreiches Werk schuf, das uns immer wieder staunen macht, wie der neue Opernabend in München zeigt. Denken wir uns dieses Jahr 1830 als Nebeneinander vieler Zeiten. Goethe lebte noch, zugleich legte Stendhal mit dem Roman Rot und Schwarz eine bis heute unübertroffene Analyse der modernen Gesellschaft und des Kapitalismus vor. Auch mit dieser Art früher Moderne ist Anna Bolena zusammenzudenken, und die Metainszenierung am Gärtnerplatz führt es uns in all ihrer Starrheit vor Augen: »Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht«, wie Marx schreibt, »und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.«
All Is True
Sein im guten, authentischen Sinne kleinbürgerliches Publikum hält dem Haus am Gärtnerplatz ähnlich wie bei der Volksoper in Wien auch in schweren Stunden die Treue, und der starke, aus der Mitte der Bevölkerung aufsteigende Wille zum Theater setzt sich zu jeder Zeit gegen die prätentiösen, pseudointellektuellen Wichtigtuereien durch, wie sie an anderen Häusern der Stadt betrieben werden. Die dreifach reduzierte Anna Bolena führt uns schockartig vor Augen, wie sehr das Leben in Deutschland sowieso schon reduziert und verarmt ist. Die derzeit medizinisch notwendigen Corona-Maßnahmen machen nur deutlicher sichtbar, wie unser Land schon lange in einem Lockdown erstarrt ist. »Die öde Werkeltagsgesinnung der modernen Puritaner verbreitet sich schon über ganz Europa, wie eine graue Dämmerung, die einer starren Winterzeit vorausgeht«, schreibt Heine am Ende seiner Schrift über Börne.
Oper als Welttheater der Gegenwart
Die Hinrichtung Annas liegt außerhalb der dramatischen Zeit; während das Beil des Henkers fiel, gingen wir durch die am Gefrierpunkt liegende Stadt. Alles geschlossen. Allein der einfallende Winter, die Coronamaßnahmen, ja diese Oper und ihre neue Inszenierung selbst sind auch Metaphern. Etwas Trauriges, etwas Totes liegt über allen Opernaufführungen wie über dem Leben selbst in diesem Land, auch außerhalb von Coronazeiten. Eine Oper beginnt nicht mit der Ouvertüre und endet nicht mit dem letzten Vorhang, sondern sie ist in ein gesellschaftliches Leben eingebettet. Dieses fehlt in Deutschland inzwischen voll und ganz, das machte die Premiere am Donnerstag in ihrer unheimlichen Atmosphäre wieder klar. Um es mit Worten von Heinrich Heine zu sagen: »Für die Schönheit und das Genie wird sich kein Platz finden in dem Gemeinwesen unserer neuen Puritaner, und beide werden fletrirt und unterdrückt werden, noch weit betrübsamer als unter dem älteren Regimente. Denn Schönheit und Genie sind ja auch eine Art Königthum, und sie passen nicht in eine Gesellschaft, wo jeder, im Mißgefühl der eigenen Mittelmäßigkeit, alle höhere Begabniß herabzuwürdigen sucht, bis aufs banale Niveau.«
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