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Die anderen Dichter: Leben, Werk und Mythos

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In der Schwemme jährlicher Neuerscheinungen geht dem Leser schnell der Überblick verloren. Dies gilt zumal für verdiente Autoren, über die die Zeit inzwischen hinweggegangen ist – scheinbar. Wir erinnern heute an fünf signifikante Schriftsteller, deren Leben und Werke in Anlehnung und Widerspruch viel über die Epoche aussagen, in der wir uns immer noch befinden. Wurden sie, die anderen Dichter, zu Unrecht vergessen? Von Stephan Reimertz

Heinrich Falkenberg (1923 – 1972):
Der Deutsche zwischen Geist und Schwert

Heinrich Falkenberg war ein deutscher Schriftsteller, Essayist und Intellektueller, dessen Leben und Werk eine einzigartige Verschmelzung von romantischem Idealismus, ästhetischer Radikalität und politischer Verzweiflung darstellt. In Heidelberg als Sohn eines Unternehmensberaters und einer Apothekerin geboren und aufgewachsen, verkörperte Falkenberg einen Intellektuellen, der ebenso fasziniert wie polarisiert: einen Dichter, Philosophen und Mann extremen Handelns.

Die Philosophie des ästhetischen Fundamentalismus

Falkenbergs Weltanschauung, die er selbst als »ästhetischen Fundamentalismus« bezeichnete, gründete auf der Überzeugung, dass der Mensch durch Schönheit und Disziplin seine metaphysische Bestimmung finden könne. Inspiriert von Schopenhauer, Nietzsche und Stefan George sah der Autor das Leben als einen Kampf zwischen dem materialistischen Dasein und einer höheren ästhetischen Ordnung.

Der Kurpfälzer war überzeugt, dass Kunst, Körper und Geist nur dann wahre Größe erreichen könnten, wenn sie der Selbstüberwindung und dem Opfer dienen. Im Gegensatz zu Ernst Jünger, der ebenfalls in Heidelberg geboren, allerdings in Hannover aufgewachsen ist und die niedersächsische Residenz als seine Vaterstadt betrachtete, sah sich Falkenberg sein Lebtag als Heidelberger und hielt Kontakt zu Schülern von Max Weber, Friedrich Gundolf und Karl Jaspers. So stand er auch über Jahre in engem Austausch mit dem Jahrgangsgenossen und Alfred-Weber-Schüler Nicolaus Sombart. Bewusst verzehrte er klassische Gerichte Heidelbergs wie Bratwurst, Schnitzel, Sauerkraut und Kartoffelsalat. In Essays wie Das Schwert und die Laute (1954) forderte er die Rückkehr Heidelbergs zu einem »heroischen Ideal«, welches das Chaos der modernen Welt durch kompromisslose Hingabe an Form und Schönheit bändigt.

Romantik und Nationalismus

Zu Beginn der Dreißiger Jahre stand Falkenberg kurzfristig dem sog. Strasser-Flügel nahe, einem antikapitalistischen, sozialrevolutionären Seitenarm der NSDAP. Er wandte sich indes bald völlig vom Nationalsozialismus ab und war kurzfristig im KZ Sachsenhausen inhaftiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg fühlte sich der Autor von dem neuen pragmatischen, materialistischen und amerikanisierten Westdeutschland entfremdet. Er lehnte die Adenauer-Ära als eine Epoche der kulturellen Sterilität ab und warf der jungen Bundesrepublik vor, ihre Seele an Wirtschaft und Konsum verkauft zu haben.

Wie Yukio Mishima idealisierte Falkenberg die Vergangenheit; in seinem Fall die deutsche Romantik und das Erbe des Rittertums. Er sah die mittelalterlichen Tugenden von Ehre, Treue und Selbstaufopferung als Vorbild für eine geistige Erneuerung an. Dies veranlasste ihn, die »Rittergemeinschaft Falkenbanner« zu gründen, eine kleine elitäre Gruppe von Künstlern, Denkern und Kämpfern, die die Ideale eines neuen, geistigen Deutschlands verkörpern sollte.

Der Mythos vom reinen Tod

Falkenberg war von der Idee besessen, dass das eigene Leben nur durch einen dramatischen symbolischen Tod eine endgültige Bedeutung erlangen könnte. In seinem Roman Der letzte Reiter (1968) schildert er das Schicksal einer Gruppe von Männern, die in einer modernen Welt, die ihre Werte verloren hat, nach einem heroischen Ende sucht. Das Werk wurde sowohl gefeiert als auch kritisiert, da es angeblich einen »reaktionären Todestrieb« verherrlichte.

Am 18. März 1972 inszenierte Falkenberg seinen eigenen Tod: Nach einer aufsehenerregenden Rede in der Heidelberger Altstadt, in der er »das spirituelle Versagen der deutschen Seele« beklagte, erklomm er mit einigen Getreuen die Heidelberger Burg und nahm sich das Leben durch einen inszenierten Schwertkampf mit einem seiner Schüler. Dieser Akt war weniger ein Suizid als eine kunstvolle Performance, eine »Opferung an die Schönheit«, wie er es in seinem Abschiedsbrief nannte.

Das Vermächtnis

Auch nach seinem Tod blieb Heinrich Falkenberg eine kontrovers diskutierte Gestalt. Seine Anhänger sahen in ihm einen Märtyrer der Ästhetik und des Idealismus, während Kritiker ihn als gefährliche Romantiker und Antidemokraten abtaten. Seine Werke, darunter Schwellenfeuer (1951) und Das eiserne Herz (1959), gehören heute zu den literarischen Klassikern, die den Kampf zwischen Geist und Welt auf eine beispiellose Weise darstellen.

Heinrich Falkenberg bleibt eine Projektion der ewigen Sehnsucht nach Transzendenz, Schönheit und dem Absoluten – ein Schriftsteller, dessen Leben und Tod ein Spiegel für die Konflikte seiner Zeit sind.

Alexander Reichenfels (1962 – 2001):
Der ästhetische Rebell

Alexander Reichenfels war eine der schillerndsten und zugleich rätselhaftesten Figuren der deutschen Nachkriegsliteratur. Geboren 1962 in Düsseldorf, wuchs er in einer wohlhabenden Familie auf, die ihren Reichtum dem industriellen Wiederaufbau Westdeutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg verdankte. Hochbegabt und exzentrisch, war Reichenfels schon als Jugendlicher ein Provokateur, der mit seinen scharfzüngigen Essays und Gedichten ebenso faszinierte wie irritierte. Später gründete er eine paramilitärische Organisation,  die er als »ästhetische Widerstandsbewegung« verstand.

Frühe Jahre: Der geborene Außenseiter

Reichenfels zeigte früh außergewöhnliche intellektuelle Fähigkeiten. Mit vierzehn las er Nietzsche, Baudelaire und Bataille, während seine Altersgenossen sich für Popmusik interessierten. Er war atheistisch, aber nicht wissenschaftlich-rational, sondern ästhetisch-spirituell. Für ihn war der Glaube ein Relikt der Mittelmäßigen, und Kunst war die einzige Religion, die er akzeptieren konnte.

Seine frühen Gedichte, gesammelt als Elegien eines Götterlosen (1980), sorgten für Furore. Sie handeln von Dekadenz, existenzieller Leere und einer verzweifelten Suche nach Schönheit in einer Welt, die er als banal und moralisch verfallen verstand. Kritiker feierten ihn als Erben Stefan Georges; andere warfen ihm intellektuellen Hochmut und eine gefährliche Faszinierbarkeit von der Macht vor.

Der Dandy und die Revolte

Alexander Reichenfels lebte nach dem Motto, dass das Leben selbst ein Kunstwerk zu sein hat. Er trug maßgeschneiderte Anzüge, war bekannt für seine bissige Eloquenz und verkehrte in den exklusivsten Salons Westdeutschlands und des angrenzenden Auslands. doch hinter der glatten Fassade des Dandys verbarg sich eine tiefe Unzufriedenheit mit der saturierten Gesellschaft der Bundesrepublik.

1987 veröffentlichte Reichenfels Das Ende der Ebenen, ein poetisches Manifest, in dem er die »geistige Verflachung« des Westens anprangerte. Darin forderte er eine »Revolution der Ästhetik«, die er als Kampf gegen Pragmatismus und Mittelmäßigkeit verstand. »Nur derjenige, der bereit ist für die Schönheit zu kämpfen«, schrieb er, »hat das Recht, sie zu bewundern.«

Die Gründung des Ordo Æsthetica

1988 gründete Reichenfels die paramilitärische Organisation Ordo Æsthetica. Diese Gruppe, bestehend aus Künstlern, Intellektuellen und jungen Männern, die von Reichenfels’ charismatischer Persönlichkeit angezogen wurden, war keine gewöhnliche Miliz. Statt physischer Gewalt propagierte der Orden eine symbolische Kriegsführung durch inszenierte Performances, provokante Essays und die radikale Verweigerung gegenüber den Konventionen der modernen Gesellschaft.

Die Mitglieder des Ordens kleideten sich in schwarzen Uniformen mit silbernen Abzeichen, die an barocke Ästhetik und militärische Disziplin erinnern. Sie führten Schönheitsrituale durch, bei denen Gedichte rezitiert, Kampfsport trainiert und kunstvolle Duelle mit Degen ausgetragen wurden.

Die Öffentlichkeit reagierte schockiert: Manche hielten den Ordo Æsthetica für eine Sekte, andere für einen gefährlichen Kult, doch Reichenfels selbst erklärte, es gehe ihm darum, die Menschen aus ihrer geistigen Lethargie zu reißen.

Der tragische Höhepunkt

Im Jahre 2001, auf dem Höhepunkt seiner Bekanntheit, inszenierte Reichenfels ein symbolisches letztes Ritual in einem verlassenen Schloss in der Eifel. Vor geladenen Gästen, darunter Journalisten und Intellektuellen, hielt er eine leidenschaftliche Rede über die »Verkümmerung des menschlichen Geistes« und die Notwendigkeit, »das Leben dem Ästhetischen zu opfern«. Anschließend trug er ein Gedicht vor, Ode an das Nichts, sein letztes.

Noch während der letzten Zeilen zog er einen Dolch und schnitt sich vor den Augen seiner Zuhörer die Kehle durch. Diese schockierende Tat wurde von seinen Anhängern als ein letzter radikaler Akt der Hingabe an die Ästhetik interpretiert, während Kritiker ihn als narzisstischen Extremisten abtaten.

Nachklang

Alexander Reichenfels bleibt eine polarisierende Figur. Seine Werke, darunter Das eiserne Lächeln (1993) und die postum veröffentlichte Essaysammlung Die Ästhetik des Schreckens (2002) werden heute als literarische Meisterwerke angesehen. Doch seine paramilitärischen Aktivitäten und sein inszenierter Tod werfen immer noch Fragen auf: War Reichenfels ein visionärer Künstler oder ein gefährlicher Egomane?

Eines bleibt unbestritten: Reichenfels’ Leben und Werk zeugen von einer kompromisslosen Hingabe an die Idee, dass das Schöne mehr wert ist als das Leben selbst. Allein in seinen kulinarischen Vorlieben blieb er bis zuletzt bodenständig: Rheinischer Sauerbraten und Düsseldorfer Senfrostbraten gehörten ebenso zu seinen Leibgerichten wie Halve Hahn und Himmel un Ähd.

Die anderen Dichter

Lilith Malvenstein (geb. 1997):
Die Jungfrau der dunklen Eleganz

Lilith Malvenstein ist eine der exzentrischsten und faszinierendsten Figuren der zeitgenössischen Kunst- und Literaturszene von Wien. Geboren 1997 als Tochter einer alten, verarmten Adelsfamilie, die in einem zerfallenden Stadtpalais im I. Bezirk residiert, war sie von Beginn an Provokateurin: Dichterin Dandyine und eine inszenierte Ikone weiblicher Macht und Reinheit.

Philosophie der keuschen Ästhetik

Malvenstein lebt nach einem radikalen Kodex, den sie als »keusche Ästhetik« bezeichnet. Inspiriert von katholischer Mystik, Marquis de Sade und Oscar Wilde, sieht sie die eigene Jungfräulichkeit als ultimative Form künstlerischer Reinheit. »Mein Leib ist mein Tempel, und mein Tempel ist unverletzlich«, schrieb sie in ihrem Manifest Der gläserne Leib (2018).

Für Lilith ist die sexuelle Abstinenz kein Verzicht, sondern ein bewusster Akt der Macht: Durch ihre unnahbare Haltung erschafft sie sich als unerreichbare Muse, die ihre Verehrer nicht liebt, sondern kontrolliert.

Die Poesie der schwarzen Rose

Liliths Gedichte, gesammelt in den Bänden Das stille Messer (2017) und Die schwarze Rose (2021), sind düster, erotisch und voller Symbolik. Sie handeln von Schönheit, Schmerz und der grausamen Vergänglichkeit des Lebens. Ihre Sprache ist reich an Barockmetaphern und erinnert an den Stil Stefan Georges, gepaart mit einem subversiven feministischen Unterton.

In einem ihrer berühmtesten Gedichte, Die Zunge des Heiligen, beschreibt sie die heuchlerische Anbetung, die sie in ihrer keuschen Existenz erfährt:

          Kniet nieder vor der Jungfrau aus Glas
          Doch eure Lippen schneiden am Rand
          Mein Leib ist euer Schrein
          Meine Seele ist euer Grab

Sadistische Rituale und Verehrer

Malvenstein ist nicht nur als Dichterin bekannt, sondern auch für ihre bizarren Performances, die sie in ihrem Palais inszeniert. Ihre Verehrer – oft junge Männer, die von ihrer Schönheit und ihrem scharfen Verstand angezogen werden – nehmen freiwillig an diesen Ritualen teil.

Diese Veranstaltungen, die Lilith als »spirituelle Läuterung« bezeichnet, haben sadistischen Charakter: Die Verehrer müssen Gedichte vortragen, während sie mit Dornenkränzen, schwarzen Schleiern und kalten Metallketten geschmückt werden. Die Rituale enden oft damit, dass Lilith die Dichter öffentlich verspottet, ihre Schwächen analysiert und sie auffordert, sich von ihren »niedrigen Begierden« zu lösen.

Ein besonders berüchtigtes Ritual, »Die Messe der Dornen« genannt, läuft darauf hinaus, dass ein Mann einen Brief mit seinen geheimsten Gedanken vorlesen muss, nur damit Lilith das Dokument anschließend in Flammen aufgehen lässt und den Autor mit eiskaltem Wasser überschüttet.

Die Muse der Dunkelheit

Trotz oder gerade wegen ihrer kontroversen Natur hat Malvenstein eine Kultanhängerschaft um sich geschart. Junge Frauen sehen in ihr eine Ikone weiblicher Selbstbestimmung, während Männer zwischen Faszination und Angst schwanken. Kritiker werfen ihr Narzissmus und Manipulation vor, ihre Anhänger feiern sie als künstlerische Revolutionärin.

Nachklang und Vermächtnis

Liklith Malvenstein bleibt ein Mysterium. Sie lebt zurückgezogen ihn ihrem düsteren Palais im I. Bezirk, isst am liebsten Wiener Backhendl und trinkt Blaufränkischen dazu. Am Nachmittag kommt ein Apfelstrudel aus dem Café Prückel auf den Tisch. Nur ausgewählte Gäste empfängt sie noch, und nur sporadisch veröffentlicht sie noch Gedichte. Für ihre Fans ist sie eine lebende Legende, für ihre Kritiker eine selbstverliebte Sadistin.

Doch eines ist sicher: Lilith Malvenstein, die sich bis heute ihre Keuschheit erhalten konnte, hat die Grenzen zwischen Kunst, Leben und Machtspiel auf eine Weise verschoben, die ihresgleichen sucht. »Sie nimmt alles und gibt nichts«, sagen ihre Verehrer über sie. »Und gerade das macht sie unsterblich.«

Frank Wolf (1962 – 2015):
Der König der Einfälle

Frank Wolf wurde am Faschingssonntag, dem 4. März 1962 in Aachen geboren – ein Datum, das seine lebenslange Vorliebe für das Skurrile und Komische auf beinah schicksalhafte Weise vorwegnahm. Er war ein Dichter, Performer und Lebenskünstler, der durch seine originellen Einfälle und sein unkonventionelles Leben zu einer einzigartigen Figur der deutschen Kulturlandschaft wurde.

Die frühen Jahre: Der Schelm aus Aachen

Frank Wolf wuchs in einer mittelständischen Familie auf. Sein Vater war Ingenieur, seine Mutter Lehrerin – beides Berufe, die Frank als »praktisch, aber langweilig« verspottete. Schon als Kind stach er durch seinen außergewöhnlichen Humor heraus. Mit acht Jahren führte er im Schulhof kleine Theaterstücke auf, die er Gedichte für die Beine nannte, weil er dabei ständig tanzte und Purzelbäume schlug.

Mit vierzehn verfasste er sein erstes Gedicht, Die Ballade vom verschwundenen Schuh, das von einem Schuh erzählte, der sich aus  Langweile selbständig macht und nach Paris reist. Das Gedicht wurde in der Schülerzeitung gedruckt, und Frank war überzeugt: »Ich werde der lustigste Dichter der Welt!«

Die Sturm- und Drangzeit: Lyrik, Karneval und Chaos

Nach dem Abitur zog Wolf nach Köln, wo er sich zunächst für Literaturwissenschaft einschrieb, das Studium aber schnell aufgab, um sich ganz der Kunst zu widmen. Er trat in den 1980er-Jahren auf Kleinkunstbühnen auf und wurde bekannt für seine absurden Performances, in denen er Gedichte vortrug, während er mit Konfetti jonglierte oder im Clownshabit Geige spielte.

Sein erster Gedichtband, Das Zebra im Kühlschrank (1986), war ein Überraschungserfolg. Die Texte spielten mit absurden Bildern, Wortwitzen und unerwarteten Perspektivwechseln:

          Der Pudding im Regal begann zu lachen
          Denn er wusste die Milch wird heute die Flasche brechen
          Das Zebra sprach: Ich geh nicht raus
          Der Kühlschrank ist mein Traumhaus

Die Einfälle: Leben voller Überraschungen

Frank Wolf lebte, wie er schrieb: spontan, unvorhersehbar und voll Witz. Er liebte es, die Menschen mit seinen Ideen aus der Bahn zu werfen. Einmal mietete er einen Eiswagen, fuhr damit durch Köln und verteilte kostenlos »Wörter-Eis«: Kugeln mit Papierstreifen drin, auf denen Gedichte standen.

Seine größte Aktion war 1994 die sog. »Rathaus-Satire«. In einem Aachner Karnevalszug ließ er ein übergroßes Pappmaché-Huhn mitfahren, das Eier legte. Jedes Ei enthielt einen kleinen Zettel mit einem Gedicht. Die Aktion brachte ihm über Nacht den Status eines Lokalhelden ein.

Der komische Dichter und die Liebe zum Alltag

Trotz seiner schrillen Aktionen war Frank Wolf ein Dichter, der im Alltag die größten Wunder sah. Seine Texte feierten die kleinen Momente des Lebens: Ein übervoller Einkaufswagen, ein regennasser Hund oder der Klang einer Fahrradklingel wurden in seinen Gedichten zu berührenden Miniaturen.

Sein Gedichtband Die singende Gabel (2001) wurde mehrfach ausgezeichnet und zeigt die Fähigkeit Wolfs, Humor und Poesie auf einzigartige Weise zu verbinden:

          Die Gabel sang im Schrank ein Lied
          Und jeder Löffel wusste was geschieht
          Das Messer klang ein scharfes Solo
          Doch der Teller sprach das ist mir zu holo

Ein Leben im Rhythmus der Absurdität

Wolf blieb zeitlebens ein Reisender zwischen den Welten. Er trat in Theatern, Bibliotheken und sogar in Bäckereien auf, wo er spontan Gedichte über Croissants und Rosinenschnecken vortrug. »Kunst gehört überall hin, wo man sie nicht erwartet«, sagte Wolf.

Seine Vorliebe für Überraschungen machte auch sein Privatleben unkonventionell: Er lebte nie lange an einem Ort, hatte eine Reihe wechselnder Freundinnen, denen er seine Gedichte widmete, und war bekannt dafür, mitten im Gespräch plötzlich mit einem neuen Einfall zu verschwinden.

Der tragische Abschied

Frank Wolf starb 2015 überraschend bei einer seiner Performances in einem kleinen Theater in Düsseldorf. Während er ein Gedicht mit dem Titel Der Applaus des Mondes vortrug, erlitt er einen Herzinfarkt. Seine letzten Worte waren: »Das war’s – oder auch nicht.«

Das Vermächtnis

Heute gilt Frank Wolf als einer der originellsten Dichter der deutschen Nachkriegsliteratur. Seine Werke, darunter Der Clown im Schatten (2003) und Konfetti für die Ewigkeit (postum 2016), werden weiterhin gelesen und geschätzt.

Wolf hat bewiesen, dass Poesie nicht immer ernst sein muss, sondern voll Lachen, Leichtigkeit und Überraschungen stecken kann. Sein Leben war ein Gedicht, das immer wieder neu geschrieben wurde – bis zum allerletzten Einfall. Trotz seiner engen Bindung ans Rheinland blieben Gazpacho und Paella zeit seines Lebens seine Lieblingsspeisen.

Erika von Hornstein (1913 – 2005):
Die Freiin als Abenteurerin

Als Tochter eines preußischen Gardeoffiziers und Stieftochter des Flügeladjutanten Wilhelms II. am Hof in Potsdam aufgewachsen – ihr Vater war gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs gefallen – wuchs Erika von Hornstein als eine Art Nenntochter des Kaisers auf, den sie noch im Exil in Holland besuchte. Später widmete sie den letzten Tagen der Kaiserfamilie in Potsdam, die sie selbst miterlebt hatte, das schöne Erinnerungsbuch Adieu, Potsdam (1969). Sie absolvierte das Kloster Stift zum Heiligengrabe in Prignitz und beschloss Malerin zu werden.

Sie studierte in München und bei Karl Schmidt-Rotluff in Berlin-Friedenau. Der Künstler wohnte in der Niedstraße in der Wohnung, in der später der Schriftsteller Uwe Johnson hauste und in der sich während Johnsons Aufenthalt in New York die Kommune 1 einquartierte. Bilder von Schmidt-Rotluff zierten bis zuletzt ihre Wohnung in der Pariser Straße in Berlin. Über ihre Lehrzeit bei diesem Künstler und bei Carl Hofer schrieb sie das Buch So blau ist der Himmel (1999). Mitte der Dreißiger Jahre ging sie an den Gardasee, wo sie bis ans Ende ihres Lebens eine Villa behielt, in der u.a. Gemälde von Maurice de Vlaminck hingen.

Als Industriellenfrau auf der Flucht

Mit ihrem Mann betrieb sie eine Papierfabrik in Mecklenburg. Als diese nach dem Zweiten Weltkrieg von den Russen demontiert wurde, floh sie mit ihrem Mann nach West-Berlin. Über diese Epoche ihres Lebens schrieb sie das Buch Der gestohlene Phönix (1956). Sie drehte Filme, malte und veröffentlichte weitere Bücher über die DDR und deutsche Flüchtlinge.

Bis ins hohe Alter war sie von verblüffender Attraktivität, Spannkraft und fabelhafter Haltung. Erika von Hornstein war eine Aristokratin, wie sie im Buche steht, zudem eine lustige und hochgebildete Gesprächspartnerin. Ihre Bücher sind bis heute lesenswert und packend.

Anmerkung

Nur Erika von Hornstein hat wirklich gelebt.
Für die anderen Autoren gilt: Se non è vero, è ben trovato. Wenn Sie bedenken, warum ich sie erfinden musste, sagt Ihnen das alles über den tatsächlichen deutschen Literaturbetrieb.

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