Als ihr sechstes Gebäude eröffneten die Kunstsammlungen Chemnitz im April ihres Kulturhauptstadtjahres 2025 das Großelternhaus von Karl Schmidt-Rottluff. Der reizvolle Stadtteil Rottluff, früher ein Dorf, besticht nach wie vor durch ländlich-entspannte Atmosphäre. Und die Kunstwelt hat ein neues Zuhause. Von Stephan Reimertz



Stadt im Spiegel der Systeme
Stephan: Entschuldigen Sie bitte, fahren Sie ins Stadtzentrum? Busfahrer: Das hier ist das Stadtzentrum! – Mit diesem kurzen Dialog ist der urbane Charakter von Chemnitz erschöpfend umrissen. Die Kulturhauptstadt 2025 vereint DDR-Plattenbau-Charme mit BRD-Kaufhof-Charme. Im Vokabular des Hallenser Psychiaters Hans-Joachim Maaz ist diese Stadt am Rande Sachsens modellhaft durch drei verschiedene »Normopathien« gegangen: Vom Nationalsozialismus über den DDR-Parteikommunismus direkt in die heutige Ordnung des Arbeits- und Konsumzwangs. Diese drei Totalitarismen sind in Chemnitz kaum zu unterscheiden. Angloamerikanische Bombardements auf die Zivilbevölkerung haben im Zweiten Weltkrieg das Stadtzentrum vollständig ausgelöscht. Das wäre heute ein Kriegsverbrechen, und es war damals eines. Da wirkt das monumentale Haupt des Kapital-Autors wie ein magischer Gegenpol. Karl Marx ist immer noch Zentrum der Stadt, die siebenunddreißig Jahre lang seinen Namen trug, auch wenn die Chemnitzer sein Monument schlicht Nischel nennen.
Bronze, Idee und Blickachse
Der sowjetische Bildhauer Lew Jefimowitsch Kerbel hat hier ein Monument verwirklicht, das man mit dem Kunsthistoriker Alois Riegl als optische Plastik bezeichnen könnte. Riegl unterscheidet in den Stilfragen optische (sehbare) von haptischer (tastbarer) Plastik und nennt Rodin bzw. Maillol als Beispiele. Optisch-schwungvoll sind auch Kerbels Ernst-Thälmann-Denkmal am Prenzlauer Berg, das Sowjetische Ehrenmal in Berlin-Tiergarten und zuletzt sein 2002 errichteter Gedenkstein für die 118 Toten beim Untergang der Kursk.
Nischel und Nietzsche
In München kommt man immer wieder am Maxmonument aus, in Chemnitz am Marxmonument. An diesem Koloss kommt keiner vorbei. Das ist Bronze massiv, kein Hohlkopf. Freilich, Betonköpfe haben aus Marx einen Gipskopf gemacht. Karl Marx selbst liebte nur harte Leute, Männer mit Stamina und Resilienz: Kämpfer, Aristokraten, Offiziere. Für die tätowierte Jugend aus den versifften Wohnküchen von heute hätte er nichts übrig. »Ich bin kein Marxist!« sagte er. Mein Marx-Bild ist nietzscheanisch. Seit mir im Alter von zwölf Jahren das Manifest in die Hände fiel, las ich von Marx und Engels alles, was ich bekommen konnte, auch wenn es damals noch nicht das wunderschön von Christian Brückner gelesene Manifest-Hörbuch gab. Auch die blauen Bände der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEW) erscheinen als eine Art Gipskopf, denn sie entsprechen nur bedingt den Intentionen der Autoren. Namentlich die zentralen Ökonomisch-philosophischen Manuskripte sind dort mitnichten in authentischer Form vorhanden. Aber es gibt Abhilfe. Derzeit wird in über hundert Bänden eine neue Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) herausgegeben, pro Band um dreihundert Euro – ein echt proletarischer Preis! Zum Glück erscheint sie zugleich online gratis, so dass jeder sein kleines Taschentelephon in eine revolutionäre Zelle verwandeln kann.
Die entfremdete Freizeit
»Der Arbeiter fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich« schreibt Marx in den Manuskripten unter der Überschrift Die entfremdete Arbeit. Das reicht dem Kapitalismus heute nicht mehr. Die stets wie unter Kokain agierenden Selbstentgrenzten und –entfremdeten der Konsumpropaganda zeigen uns: Auch außer der Arbeit soll man außer sich sein. Nur im Zustand chronifizierter Besinnungslosigkeit, ausgelöst durch mediales Dauerfeuer, ist die heutige Form des Kapitalismus noch zu ertragen, der Mensch vollkommen vom kritischen Denken abgeschaltet, als brave Konsum- und Arbeitsbiene erhalten. Hinter dem Roten Turm, einen Steinwurf vom Marxmonument entfernt, strömen die Chemnitzer dann auch brav durch die Kauftempel der einschlägigen westlichen Marken. 1989/90 war ich voll und ganz gegen die »Wiedervereinigung«, weil ich befürchtete, die DDR könnte eine solche Hölle mit Einkaufszentren, Tankstellen, Autohäusern usw. werden. Und genau das ist sie geworden. Man kann sich überlegen, ob man den schönen Frauen von Chemnitz nicht eine schönere Stadt wünschen würde. Allerdings weigere ich mich, Chemnitz hässlich zu nennen. Es ist eine interessante Stadt mit vielfältigem kulturellen Leben, das sieht man auf den ersten Blick. Auch gewahrt man eine gewisse Offenheit, eine Art Chemnitz-Swing – besonders im Kontrast zu jener Armee der Verdammten, mit der man in Berlin konfrontiert wird.
Chemnitz, Stefan und Stephan
Standesgemäß für einen Schriftsteller residierte ich am Stefan-Heym-Platz; in einem Hotel, das auf Booking etwas nobler wirkte als in Wirklichkeit, dafür mit einem hinreißenden Blick auf den idyllischen Platz.
Überhaupt ist es schmeichelhaft für mich, dass so viele Schriftsteller als Pseudonym jenen Vornamen wählten, der mir schon in die Wiege gelegt wurde. Helmut Flieg nannte sich Stefan Heym, Rudolf Leder wählte den Namen Stephan Hermlin, Etienne George zog den Namen Stefan George vor, ebenso ging es Etienne Mallarmé mit Stéphane Mallarmé. Alles hervorragende Schriftsteller! Nur Stefan Zweig hieß wirklich so.
Reflexe der Erinnerung
Der kaschubische Politaktivist, Illustrator, Buchautor und SS-Mann Günther Graß (Eigenschreibung: Günter Grass) sprach von »meinem Lehrer Schmidt-Ruttloff«. War das ein Versprecher, oder ging es Graß hier wie bei den meisten seiner Politäußerungen; dass er schlicht nicht wusste, wovon er sprach? Künstlerisch an ihm war seine Clownsaufmachung mit Plebejerkappe und Seelöwenbart. Karl Schmidt-Rottluff jedenfalls hatte im »Dritten Reich« Malverbot. Meine großmütterliche Freundin Erika von Hornstein besuchte als junge Malschülerin in Berlin Schmidt-Rottluff in jener Dachwohnung in der Friedenauer Niedstraße 14, in die später der Schriftsteller Uwe Johnson einzog. Während Johnsons Aufenthalt in New York machte sich dort die Kommune 1 breit. Als Johnson davon in New York in der Zeitung las, sagte er »Günter Grass« Bescheid, der die Kommunarden hinauswarf.
Das Haus der Großeltern in Rottluff wurde für Karl Schmidt-Rottluff während der Zeit der Verfemung im »Dritten Reich« zur Zufluchtsstätte – seit April 2025 ist es ein medial geschickt eingerichtetes Kunstmuseum.

Hier: Nietzsche-Porträt und Schriftauszug mit einem für uns heute besonders relevanten ausschnitt aus dem Zarathustra.



Bei Verwendung des Textes bitte Quelle angeben bzw. verlinken.
Was Chemnitz sehenswert macht:
- Marx-Monument als urbanes Symbol neuer Reflexion
- Neubau des Schmidt-Rottluff-Hauses als Zeichen kultureller Erneuerung
- Chemnitz zeigt Spannungsfeld zwischen Geschichte und Gegenwart
Karl Schmidt-Rottluff Haus | Limbacher Str. 382, 09116 Chemnitz |
| Dienstag bis Sonntag: 11–18 Uhr | Weitere Informationen |
Chemnitz 2025: Marx, Myth and Modernity
In its European Capital of Culture year 2025, Chemnitz opened Karl Schmidt‑Rottluff’s restored grandparents’ house in the district of Rottluff – a tranquil new center for art. Once an industrial powerhouse, Chemnitz still bears the marks of three regimes: National Socialism, East German ideology, and today’s culture of consumer capitalism. Watching over all is Karl Marx’s monumental head, locally called Nischel, a symbol of unresolved history.
The Soviet sculptor Lev Kerbel created this optical sculpture in Riegl’s sense, casting Marx in bronze as a counterweight to ideological shifts. The city itself blends socialist housing with capitalist malls, revealing a rough yet poetic rhythm.During the Nazi era, Schmidt‑Rottluff found refuge in his grandparents’ home; today, it has become a museum of memory and renewal. Here, art and history meet: Marx’s head, expressionist color, and the quiet search for a new Saxon identity intersect in one evolving cityscape.



