Eine Rezension von Barbara Hoppe.
Nur eine Stunde dauerte die Vertreibung aus dem Paradies. Eine Stunde, in der die Chagossianer ein paar Habseligkeiten provisorisch in Taschen und geschnürte Tücher stopfen konnten, bevor sie auf ein Schiff getrieben und unter menschenunwürdigen Umständen in einer rund einwöchigen Fahrt auf Mauritius an Land gespuckt und in ärmliche, dreckige Hütten verfrachtet wurden. So schildert es Shenaz Patel in ihrem schmalen Roman “Die Stille von Chagos“ über ein kleines Volk, dessen Schicksal 1968 weitgehend unbeachtet vom Weltgeschehen besiegelt wurde.
Das Chagos-Archipel liegt im Indischen Ozean, rund 1900 km östlich der Seychellen, 1600 km südwestlich von Indien und 500 km südlich der Malediven. 55 Inseln, die sich auf sieben Atolle verteilen. Ihre Bewohner lebten von Fischfang, Kokosnüssen und dem, was ein Schiff regelmäßig auf die Insel brachte. Ein einfaches Leben, in dem einmal wöchentlich bei der Sega gefeiert wurde. Seit 1810 gemeinsam mit Mauritius britische Kolonie, verblieb es 1968 als Preis für die Unabhängigkeit Mauritius‘ unter britischer Hoheit. Es entstanden die „British Indian Ocean Territorries“ mit dem Ziel, die größte der Inseln – Diego Garcia – an die USA zu verpachten, die dort einen ihrer wichtigsten Militärstützpunkte während des Kalten Krieges und des ersten Irakkrieges einrichteten. Und das war das Ende des friedlichen Lebens der Chagossianer. Bis heute kämpfen die rund 8.000 ins Exil Getriebenen vergeblich um Entschädigung und um das Recht, in ihre Heimat zurückkehren zu dürfen. Auch Mauritius begann sich seines aufgegebenen Landstrichs bewusst zu werden und forderte zuletzt sogar vor der UNO-Generalversammlung die Anerkennung der mauritischen Souveränität im Archipel. Doch die Briten kämpfen um ihr Territorium, bewilligen zwar Hilfsprojekte und die britische Staatsbürgerschaft für alle Chagossianer, verlängerten den Pachtvertrag an die Amerikaner jedoch gerade erst 2017 um weitere 20 Jahre.
Eindrücklich-bestürzend beschreibt Shenaz Patel, 1966 auf Mauritius geboren, wie erst das Unglück in das friedliche Leben der Chagossianer Einzug hält und schließlich das Elend in den Slums von Port Louis, der Hauptstadt von Mauritius. Drei Menschen, drei Schicksale, drei Perspektiven verknüpft die Autorin zu einem Bild, das für das Schicksal der entwurzelten îlois steht. Da sind Charlesia, die mit ihrem kranken Ehemann auf Mauritius ankommt, wo er einige Jahre später wie so viele Deportierte stirbt, die hochschwangere Raymonde, die ihren Sohn Désiré auf hoher See zur Welt bringt und dann ist da noch der ahnungslose Hafenarbeiter Tony, der immer wieder Charlesia am Meeresstrand stehen sieht, sehnsüchtig in Richtung Heimat blickend. Das Paradies ist für sie unerreichbar, ebenso wie für Désiré, der einmal nur nach Chagos reisen möchte, einen Ort, den er nie kennengelernt hat. Durch sie bekommen die Opfer dieses politischen Territorialkampfes ein Gesicht. Abstraktes wird begreifbar. Mit einer unaufgeregten, klaren Sprache, in die sie immer wieder kreolische Lieder und Redewendungen einstreut, wirft Shenaz Patel ein Schlaglicht auf eine unbekannte Tragödie, in der die Protagonisten bis heute ganz real um ihre Rechte kämpfen.
Shenaz Patel
Die Stille von Chagos
Aus dem Französischen von Eva Scharenberg
Weidle Verlag, Bonn 2017
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