„Déjanire“ von Camille Saint-Saëns im Auditorium Prince Rainier III, Monte-Carlo (Monaco). Von Barbara Röder.
Welch magischer Ort. Welch Zauber überfällt den Musenfreund, in dieser mystisch angehauchten Szenerie: Monaco! Schon Nietzsche wusste den blendend weißen Himmel, das tropisch blaue Meer und die Opernvielfalt in seinen fünf langen Wintern an der französischen Riviera zu schätzen. In Monte-Carlo hörte er das Vorspiel zum „Parsifal“ in Nizza, Bizets „Perlenfischer“ und „Carmen“, Thomas’ „Hamlet“ oder Délibes „Lakmé“. Im Herbst 2022 erleben wir hier im Auditorium Prince Rainer III so gar „kein seltsames Werk“ (Saint-Saëns), sondern wohldurchdachte, musikdramatische Erinnerungskultur in Form eines Konzerts. Die Opernrarität „Déjanire“ von Camille Saint-Saëns steht auf dem Programm.
Die Aufführung der konzertanten Oper in vier Akten ist einer der Höhepunkte der Gedenkfeiern des Fürstentums Monaco für Fürst Albert I. anlässlich seines hundertsten Todestages. Mit dem traditionsträchtigen Orchestre Philharmonique de Monte-Carlo, das unter dem achtsamen, hochemotionalen Klangemphase auslösenden Dirigat von Kazuki Yamada spielte, erlebte der Zuhörer mit “Déjanire“ die bemerkenswerte Wiedergeburt einer fulminant betörenden Tragédie lyrique.
Saint-Saëns’ „Déjanire“ wurde im März 1911 auf Veranlassung von Prinz Albert I. von Monaco am Théâtre de Monte-Carlo uraufgeführt. Zwei Monate davor fand die erste Rallye Automobile Monte-Carlo statt. Innovative Technik und Zeitgenössisches, dem Zeitgeist entsprechende Opern waren in der Belle Époque im monegassischen Fürstentum en vogue. Im Spielcasino und dem daran gebauten Musenpalast, dem 1879 eröffneten Opernhaus inklusive des illustren Salle Garnier, der nach Vorbild der Opéra Nationale de Paris entworfen wurde, trafen sich alle, die in Europa weltweit Rang und Namen hatten. Prinz Albert I. von Monaco, ein sehr kunstsinniger Monarch, beauftragte Saint-Saëns mit einer Oper.
Der erfahrene Hellenist konnte für seine Monte-Carlo-Déjanire auf viel Komponiertes zurückgreifen. Hatte er doch in einer glorreichen antiken Mammutshow bereits 1898 im römischen Amphitheater von Béziers unter freiem Himmel seine Bühnenmusik zu der Tragödie „Déjanire“ seines Freundes Louis Gallet dirigiert. Für seine monegassische „Déjanire“ entlieh er Parts seiner „alten Déjanire“, die er mit neuen Ideen speiste. Seine symphonische Dichtung „La Jeunesse d’Hercule“ (1877) umrahmt deshalb auch die vier Akte der Tragödie. „Dejanire“ ist, das kann vielleicht so gesehen werden, das Opus Magnum des Opernschaffens von Saint-Saëns. Dreizehn Opern komponierte er, wobei „Samson et Dalila“ (1877) und Henry VIII (1883) sein internationales Renommee als Opernkomponist begründeten. Seine „Dejanire“ atmet musikalisch intensiv den weltmännischen Freigeist des großen kreativen, nachdenklichen Meisters.
Bemerkenswert ist, dass Saint-Saëns einer der ersten war, der den Klang alter Instrumente nachspürte und sich erfolgreich für die historische Aufführungspraxis in Frankreich einsetzte. 1901 regte er einen begeisterten Bratschisten an in Paris die „Société des instruments anciens“ zu gründen. Seine wahre musikpoetische Identität und seine feine Klangästhetik schöpft Nahrung aus der klassischen Antike. Diese entfaltet sich in seiner Tragédie lyrique „Déjanire“ höchst eindringlich. Sie scheint ganz aus dem Herzen der Musik zu klingen, schwingen und zu jubilieren. Der bekennende Hellenist Saint-Saëns verfasste zudem Teile des von Sophocles inspirierten Librettos, da sein Freund und Textdichter der „Déjanire“ Gallet verstorben war.
Wie schon bei einigen Komponisten vor Saint-Saëns geht es in der lyrischen Tragödie ebenfalls um den grausamen Tod des Herkules und dessen Aufnahme im Olymp. Späte Rache, Fluch, Tod und Vergeblichkeit sind in der hochromantischen französischen „Déjanire“ ebenfalls als Themen immanent. In der Barockrarität „Deianira, Iole ed Ercole“ einer 1711 komponierten Serenata von Antonio Porpora verbrennt sich Herkules auf seiner Hochzeitsfeier auf einem Scheiterhaufen. Zuvor hat er ein vom Blut der Hydra getränktes Gewand, ein Geschenk seiner Frau Deianira, angelegt.
Diese ahnte nicht, was sie übergab. Denn der heimtückische Nessus, den Herkules mit vergifteten Pfeilen der Hydra niederstreckte, gab es Deianira mit den Worten, dass sie die Liebe des ewig Untreuen zurückgewinnen könne, wenn sie es ihm schenke. Eine fatale Täuschung! Diese brutale Geschichte entfachte die Fantasie in den musikalisch epischen Gemütern im Barock. In Versailles erklang 1761 Antoine Dauvergnes Tragédie lyrique „Hercule mourant“. Das auf Ovids Metamorphosen zurückgehende schicksalhafte französische Pendant, ebenfalls ein Eifersuchtsdrama, löste damals Schauder und schmerzvolle Schrecken aus. Natürlich musste Georg Friedrich Händel dem griechischen Sagenhelden Hercules 1745 ein leider recht erfolgloses englisches Oratorium widmen. In diesem tobt Dejanira, die Ehefrau des Helden, musikalisch in den höchsten glühenden Eifersuchtstiraden und mit ungebändigtem Zorn. Hercules ist bei Händel der treue, edle Gatte, der eine Furie ertragen muss. Wie sollte es auch damals anders sein.
Im Zeitalter von Saint-Saëns wendet sich das Blatt. Denn im Fin de Siécle erobern Heldinnen die Bühnen und bestürmen die Herzen der Komponisten und Poeten. Frauen aus Fleisch und Blut, leidende, kämpfende Heroinnen rücken ins Gaslampenlicht: Marguerite anstatt Faust (Gounod), Carmen (Bizet), Làkme (Delibes), Manon (Massenet) oder Mignon (Thomas). Saint-Saëns betritt mit „Déjanire“ das magische Reich der Frauenpower. Das fatale Bündnis zweier Frauen, (Iole und Déjanire) bringen den stärksten Helden der Mythologie zu Fall: Herkules. Dieser ist ein Windhund mit dem Charme eines Hollywoodtausendsassa, ein Wotan gleicher Frauenbetörer. Trommelwirbel, vier Trompeten kündigen den Auftritt des Hercule an. Wie ein stolzer Stier betritt er die Liebeskampfarena. Julien Dran singt ihn fulminant, diesen stolzen Hercule. Sein eleganter, schlanker, gut akzentuierten Tenor leuchtet. Er ist ein übermütiger, selbstgerechter Antiheld, der seine Frau Déjanire verstößt und beleidigt. Das kommt in dieser konzertanten Performance fantastisch zum Ausdruck. Iole ist seine neue Flamme. Sie will er. Sie begehrt er. Ihren Vater hat er gemordet, ihr Volk unterdrückt er. Jetzt will er Ioles Herz. Sie aber liebt seinen Freund Philoctète. Wie solle es auch anders sein in einem Drama. Déjanire, rasend vor Schmerz und Verletztheit, will Hercules Liebe zurück. Sie verbündet sich mit Iole, die zum Schein der Hochzeit mit Hercule einwilligt.
Das von Déjanire erhaltene Gewand übergibt sie Hercule als Brautgeschenk. Kaum übergestreift, wirkt das Gift der Hydra. Hercule windet sich vor Schmerz und lässt sich wie Brünnhilde einen Scheiterhaufen errichten. Brennend entschwebt er von flirrenden Harfen begleitet in den Olymp. Was wir in Monte-Carlo hören, ist große Oper von internationalem Format mit einer Phalanx von Spitzeninterpreten. Kate Aldrich ist eine beseelt voller Hingabe singende Déjanire. Ihr warmer Mezzo verströmt Tigertatzen samtenen Wohlklang. Die erdigen Naturfarben ihrer variationsreichen gesanglichen Gestaltung zeugen von hoher Könnerschaft. Aldrich ist eine Ausnahmeinterpretin und die Idealbesetzung für die Partie der Déjanire. Anaïs Constanze (Iole) leuchtend kristallklarer Sopran wird von hellen, exotisch anrührenden Orpheusgesängen des blitzsauber intonierenden Orchesters umspielt. Ein Schachzug des Komponisten ist es, ihren Gesangspart mit exotisch säuselnden Flötenklängen zu umschmeicheln. Dem schmeichelnden Liebeswerben von Hercule widersteht diese innig liebende Iole. Das Duett mit ihrem Herzensmann Philoctète ist ein Höhepunkt des Abends. Quirligen Harfen und Silberklänge der Holzbläser umwehen den edel mit brillanter Strahlkraft klingenden Bariton von Jérôme Boutillier. Die junge Mezzosopranistin Anna Dowsley ist eine Entdeckung. Die tiefgründige Phénice, Vertraute von Déjanire gestaltet Dowsley mit erzigsaftigem frischen Tonfall und anrührender Leidenschaft.
Für diese eindrucksvolle, konzertante Version der „Déjanire“ hat Saint-Saëns selbstverständlich meisterlich Bühnenmusiken kreiert. Diese klingen bombastisch gut. So, als sei man im ganz großen Kino à la Ben Hur. Die Luft knistert. Südliche Gefilde bestürmen das Kopfkino. Monodiegesänge des Chœur de Opéra de Monte-Carlo (Stefano Visconti) und Pentatonikkaskaden im Orchester beschwören tonschön das antike, mystische Griechenland herauf. Die rußdunklen Klänge der Holz- und Blechbläser (Kontrafagott und Englischhorn) zaubern eine archaische Atmosphäre. Das wahrhaft rauschhafte Spektakel wurde mit Standing Ovations und lautstarken Bravi gefeiert. Großes Kompliment!
Auf Initiative des Centre de musique romantique Française Palazzetto Bru Zane in Venedig, das sich der Wiederentdeckung der Kulturpflege und der Herausgabe französischer romantischer Kompositionen und Opernraritäten verpflichtet fühlt, wurde für die Reihe „Opéra français“ – Bru Zane Label Saint-Saëns’ „Déjanire“ aufgenommen. Auf den Silberling mit dem wie immer ausführlichen Programmbuch muss man sich schon jetzt freuen.
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