Zum Inhalt springen

„ensemble works II“. Mit dem Ensemble Modern hat Marcus Antonius Wesselmann sein zweites Album zeitgenössischer Musik veröffentlicht

Rating: 5.00/5. From 1 vote.
Please wait...


Interview von Barbara Hoppe

„ensemble works II“. Mit dem Ensemble Modern hat Marcus Antonius Wesselmann gerade sein zweites Album zeitgenössischer Musik veröffentlicht
Marcus Antonius Wesselmann / © Andrea Schönwandt

Wie kann man Menschen für zeitgenössische Musik begeistern? Der Komponist und Produzent Marcus Antonius Wesselmann sieht in ihr nicht nur eine Möglichkeit, sich intensiv mit Musik auseinanderzusetzen, sondern auch die Chance, klassische Musik in die nächsten Generationen zu tragen. Sein zweites Album mit dem Ensemble Modern ist ein starkes Klangerlebnis, bei dem Zuhören lohnt.

Feuilletonscout: Die meisten Menschen gehen immer noch lieber in Konzerte, in denen man Werke der „alten“ Klassiker wie Mozart, Beethoven, Chopin in immer neuen Interpretationen hört. Wie kann man das Publikum an zeitgenössische Kompositionen heranführen und es dafür begeistern?
Marcus Antonius Wesselmann: Angesichts des immer weiter steigenden Altersdurchschnitts der Besucher klassischer Konzerte liegt hier eine echte Herausforderung: Entweder es gelingt, künftige Generationen für die Inhalte Neuer Musik zu sensibilisieren und zu interessieren, oder die musikalische Produktion wird noch stärker marginalisiert, als sie es ohnehin schon zu sein scheint. An ein bloßes Entgegenkommen über elektronische Medien glaube ich nicht; eher müsste die inhaltliche Auseinandersetzung mit Musik stärker in den Mittelpunkt gerückt werden. Was aber die Rolle des Komponisten angeht, bin ich allerdings davon überzeugt, dass seine künstlerische Redlichkeit der wichtigste Aspekt in der ganzen Angelegenheit sein dürfte. Das Schielen nach Anerkennung und Interesse wird da eher hinderlich sein.

Feuilletonscout: Auf Ihrem neuen Album beschäftigen Sie sich auch mit der Trauer als produktive Kraft. Wie sind Sie zu dieser Erkenntnis gekommen?
Marcus Antonius Wesselmann: Das ist eher eine Haltung als eine Erkenntnis, wobei ich einschränken muss, dass ich die produktive Kraft der Trauer auf gesellschaftliche bzw. politische Ereignisse beziehe. In politischen Befreiungskämpfen war und ist Trauer eine stets gegenwärtige Erscheinung, die aber –  anders als im persönlichen Bereich – nicht lähmend, sondern produktiv in dem Sinne wird, den Kampf nicht aufzugeben. Beispielhaft hierfür ist für mich der Song „Beloved Comrade“ von Fred Katz und Lewis Allan aus der Zeit des Spanischen Bürgerkriegs: Am Grabe des gefallenen Kameraden wird der Schwur abgelegt, den Kampf gegen den Faschismus weiterzuführen – the fight will go on till we win. Ein, wenn man den historischen Zusammenhang bedenkt, bemerkenswert schönes und sanftes Lied. Diese Haltung habe ich versucht, in THE FIGHT WILL GO ON aufzuheben und sie so lebendig zu halten.

Marcus Antonius Wesselmann_Cover
Hörprobe hier klicken

Feuilletonscout: Ihre Kompositionen basieren auf mathematischen Prozessen, Binärcodes und Primzahlenverhältnissen. Ist zeitgenössische Musik Mathematik? Braucht zeitgenössische Musik Mathematik?
Marcus Antonius Wesselmann: Fast jede Kunst basiert auf mathematischen Gegebenheiten, natürlich in unterschiedlicher Ausprägung und nicht mit immer bewusster Handhabung. Das gilt ganz besonders für Musik, angefangen beim Rhythmus (dessen einzelne Bestandteile sich in quotientartigem Dauern zueinander verhalten – bis hin zu Taktangaben) über rein formstiftende Aspekte (Wiederholungen und dramaturgisch komplexere Anordnungen, beinahe kombinatorisch) bis zu den mathematisch durchorganisierten Werken des Serialismus. Die Frage, ob zeitgenössische Musik Mathematik braucht ist im Grunde genommen damit beantwortet: Sie braucht nicht nur Mathematik, sie nutzt sie – selbst wenn der Komponist sich nicht darüber bewusst ist.
Insbesondere bei meiner Musik hat die Mathematisierung (ich nenne sie so, auch wenn ich weiß, dass ich mich mathematischer Gesetzmäßigkeiten und Prozesse bediene und natürlich keine eigentliche Wissenschaft betreibe) über die Gestaltung selbst hinaus die Funktion der Objektivierung. Warum? Wir alle sind umgeben von medialer Gefühlsproduktion, die meist auf der Wiederholung bekannter Denkschemata basiert und oft allein schon deshalb falsch ist. Daher bedient sich – einfach ausgedrückt – mein kompositorischer Ansatz der rationalen Anteile des Serialismus zur Vermeidung „falscher Gefühle“.

Feuilletonscout: Wen möchten Sie mit ihren komplexen Kompositionen ansprechen?
Marcus Antonius Wesselmann: Streng genommen gibt es keine konkret benennbare Gruppe, an die sich meine Musik richtet. Oder vielleicht doch: den aufmerksamen Zuhörer. Ich bin froh über diejenigen, deren Gedanken sich mit meiner Musik aktivieren lassen.

Feuilletonscout: Ihr aktuelles Album klingt sehr jazzig. Warum?
Marcus Antonius Wesselmann
: Unsere akustische Umwelt, zu der ja eine nahezu permanente Beschallung durch Musik gehört, lässt den Typus des aufmerksamen Zuhörers und interessierten Laien immer seltener werden. Aber mit diesem Gedanken kommen ich noch einmal auf die erste Frage zurück, wie sich Zuhörer für Neue Musik begeistern ließen, und damit zu dem bescheidenen Anteil, den der Komponist dazu beitragen könnte. Ich für meinen Teil habe in vielen Werken meinen Weg in einer an Jazz erinnernden Klanglichkeit gefunden: Neben einer charakteristischen „Harmonik“ ist es die Fokussierung auf den Rhythmus sowie die Besetzung mit jazztypischen Instrumenten. Interessanterweise ist dieser Aspekt trotz seiner ästhetischen Prägnanz zweitrangig. Ähnlich wie Steve Reich, der in einigen Werken seine Harmonik stark reduzierte, um seine rhythmischen Evolutionen als zentral erkennbar sein zu lassen, arbeite ich mit Reduktionen zur Hervorhebung der formalen Dramaturgie. Ich möchte das so formulieren: Materialien des musikalischen Alltags werden nach objektiven Kriterien nicht-linearer Prozessen und/oder quasi-kristallinen Modellen neu zusammengesetzt.

Feuilletonscout: Sie arbeiten hierbei wiederholt mit dem Ensemble Modern. Ihr Kollege Moritz Eggert hat auf Ihrem vorherigen Album die Klavierstücke eingespielt. Gibt es so etwas wie ein Community für zeitgenössische Musik? Wenn ja, wie zeichnet sie sich aus?

Marcus Antonius Wesselmann: Selbstverständlich gibt es eine Community für zeitgenössische Musik. Um das zu erleben, brauchen Sie bloß die einschlägigen Festivals wie Darmstadt oder Donaueschingen, Witten oder München zu besuchen. Wenn Sie aber wissen wollen, wodurch sie sich auszeichnet, sollten Sie besser deren Protagonisten fragen. Ich halte mich gerne in bewusster Distanz zum allgemeinen Betrieb und profitiere von der damit verbundenen Freiheit außerordentlich. Interpreten wähle ich in erster Linie danach aus, inwiefern sie mit meiner Musik eine produktive Einheit bilden.

Feuilletonscout: Fühlt man sich dabei manchmal wie ein Pionier? Das Ensemble Modern zum Beispiel erarbeitet jährlich rund 70 Werke neu, davon ca. 20 Uraufführungen.
Marcus Antonius Wesselmann
: Insbesondere das EM und seine Mitglieder leisten seit über dreißig Jahren eine beinahe einzigartige Pionierarbeit auf dem Gebiet zeitgenössischer Musik und damit verbundenen interdisziplinären Projekten. Das lässt sich schon an der großen Menge von Ensembles erkennen, die seit der Gründung des EM entstanden sind. Natürlich schwimmen nicht alle im Fahrwasser des EM, aber von deren kultureller Vorarbeit profitieren sicherlich sehr viele von ihnen.

Marcus Antonius Wesselmann_Cover
Hörprobe hier klicken

Feuilletonscout: Warum sollten eingefleischte Klassikfans es ruhig einmal mit der zeitgenössischen Klassik probieren?
Marcus Antonius Wesselmann: Vielleicht hilft folgender Gedanke: In der Zeit vor der technischen Reproduzierbarkeit musikalischer Interpretationen war es ganz selbstverständlich, beinahe ausschließlich zeitgenössische Musik zu hören. Man muss sich klar machen, dass eine heute so unangefochtene Größe wie Bach lange Zeit aus dem damaligen Konzertbetrieb verschwunden war und seine Musik erst knapp hundert Jahre nach seinem Tod wieder aufgeführt wurde. Und welche Musik wurde in der Zwischenzeit gespielt und gehört?
Mit den Möglichkeiten der Konservierung musikalischer Interpretationen von der Schellackplatte bis zum Download hat sich ein immenses Repertoire an Einspielungen angesammelt – naturgemäß sind hier ältere Werke in der Überzahl. Das hat zu einer drastischen Veränderung des Hörverhaltens geführt. Neben vielen positiven Effekten wie der weltweiten Verbreitung des musikalischen Repertoires ist bis heute eine gleichzeitige Musealisierung desselben zu beobachten: Als würde die Lebendigkeit der Musik und ihre Kontextbezogenheit gewissermaßen festgesetzt und das musikalische Werk zur Biene im Bernstein. Und welche Musik wurde in der Zwischenzeit komponiert?
Die kompositorischen Techniken haben sich ebenso weiterentwickelt wie die menschliche Gesellschaft und das sie umgebende Ensemble technischer Errungenschaften samt der damit verbundenen Möglichkeiten. Vielleicht wurde in der abendländischen Musikgeschichte noch nie so viel komponiert wie heute, und wer weiß wie viel von dieser Musik niemals zur Aufführung gelangen wird. Und welche Musik wird in der Zwischenzeit am meisten gehört?
Die Frage, warum eingefleischte Klassikfans es ruhig einmal mit zeitgenössischer Musik probieren sollten, lässt sich am besten mit einer prähistorischen Gegenfrage beantworten: Was ist Ihnen lieber – die Biene im Bernstein oder die Biene auf der Wiese?

Vielen Dank für das Gespräch, Marcus Antonius Wesselmann!

Marcus Antonius Wesselmann und das Ensemble Modern unter der Leitung von Franck Ollu
ensemble works II
Neos (Harmonia Mundi)
Ensemble Works II bei amazon

 

Bei Verwendung des Textes bitte Quelle angeben bzw. verlinken.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert