Rezension von Barbara Hoppe.
Ein Zug fährt von Moskau nach Sankt Petersburg. Es ruckelt und schüttelt die Passagiere ordentlich durch. Unter ihnen ist auch Leonid Zypkin, dem mehr als einmal sein Buch aus der Hand rutscht, so unruhig ist die Fahrt. Seine Reise soll ihn in der Stadt an der Newa an verschiedene Wirkungsstätten Fjodor Dostojewskis führen.
Doch nicht nur Zypkin ist auf Reisen. Das Buch, das er in den Händen hält, ist das Tagebuch von Anna Grigorjewna Dostojewskaja, der zweiten Frau von Dostojewski. Das Ehepaar war rund 100 Jahre zuvor, um 1867 herum, in Europa unterwegs. Immer getrieben von Geldsorgen, der Spielleidenschaft Dostojewskis, Liebe, Frust und Leidenschaft. Im titelgebenden „Sommer in Baden-Baden“ schrauben sich die Probleme des Paares und ihre Versöhnungen schließlich ins Unermessliche bis es die Stadt fast fluchtartig verlässt.
Was sich leicht wiedergeben lässt, ist eine abenteuerliche Reise durch die Welt zweier Russen und ein Husarenstück durch die Kunst hoher Literatur. Zypkins Reise und die des Ehepaars Dostojewski verschwimmen, werden zu einem Geflecht aus Assoziationen mit halsbrecherischen Sätzen. Seite um Seite schlängeln sich die Worte. Kommata und Bindestriche helfen bei der Orientierung und führen doch nur zu noch mehr Abschweifungen und Träumereien eines Reisenden, dessen Beobachtungen und Leseeindrücke eins werden mit seiner Bewunderung für den russischen Schriftsteller.
Ein Umstand, der nicht selbstverständlich ist. Denn Dostojewksi war Antisemit. In seinen Werken treten Juden als Wucherer, Krämer, kleine Gauner oder Sadisten auf. Und trotzdem fasziniert er seine Leser, auch die jüdischen unter ihnen. So wie Leonid Zypkin, dessen Leidenschaft das Schreiben war, obwohl er sein Geld als Pathologe verdiente. Kräftezehrend war die Niederschrift dieses Traumromans, dessen Erfolg sein Verfasser nicht mehr erleben sollte. Am 13. März 1982 war es Asari Messerer gelungen, den Roman in einer New Yorker Wochenzeitung für russische Emigranten, der Nowaja Gaseta, unterzubringen. Nur eine Woche später starb Leonid Zypkin 56-jährig an einem Herzanfall. Da hatte er bereits fast alles verloren: Sohn und Schwiegertochter waren in den USA, er selbst hatte nach mehreren Versuchen, ausreisen zu dürfen, keine Arbeit mehr. Mit Übersetzungen hielt er sich und seine Frau über Wasser.
In seinem Meisterwerk lernen wir einen Dostojewski kennen, der fasziniert und abstößt. Der zwischen Genie und Wahnsinn taumelt. Den wir gemeinsam mit Zypkin auf dem Sterbebett begleiten, dort in Sankt Petersburg, wo der jüngere bei einer lieben Freundin der Mutter unterkommt und bereits in der Dämmerung das Sterbehaus des großen Dichters besucht. Uns begegnet ein Dostojewski, der uns neugierig macht, ihn näher kennenzulernen, seine Werke wieder in die Hand zu nehmen: Die „fünf Elefanten“ – Schuld und Sühne, Die Brüder Karamasow, Der Idiot, Böse Geister und Ein grüner Junge – aber auch sein Tagebuch und seine Aufsätze.
Wer sich auf Leonid Zypkin einlässt braucht Geduld und viel Liebe. Liebe zur Literatur, Liebe zur russischen Literatur, Liebe zur Sprache, Liebe zur Muße. Aber dann wird man reich belohnt.
Leonid Zypkin
Ein Sommer in Baden-Baden
Aufbau Verlag, Berlin 2020
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Zitat: „Wer sich auf Leonid Zypkin einlässt braucht Geduld und viel Liebe.“
Da kann ich nur zustimmen. Aber ich würde es noch einen wesentlichen Aspekt erweitern.
Meim Lesen stellte sich bei mir regelmäßig folgender Gedanke ein: Wem die Biografie Dostojewskis nicht vertraut ist, liest sicherlich ein anderes Buch als ich. Will heißen: Ohne dass einem Dostojewskis Biografie vertraut ist, dürfte sich dem Leser dieses Buch nur schwer, wenn überhaupt erschließen.
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