Finale der Ruhrtriennale: „Guernica Guernica“ verwandelte die Jahrhunderthalle in einen erschütternden Spiegel der Zeitgeschichte. Von Stefan Pieper
Mit „Guernica Guernica“ riss die Ruhrtriennale in Bochums Jahrhunderthalle zu ihrem Abschluss das Publikum mit eindringlicher Überzeugungskraft nochmal aus seiner Komfortzone. Das belgische Theaterkollektiv FC Bergman inszenierte eine wortlose Bildinstallation über Picassos berühmtes Anti-Kriegs-Gemälde und brachte damit eine der radikalsten Kriegsdarstellungen auf die Bühne, die das deutsche Theater in den letzten Jahren hervorgebracht hat.
Kollektive Erschütterung
Mit fast hundert Statisten und atemberaubender Raumnutzung breitete die Produktion ihre zentralen These aus: Kriege entstehen aus der kollektiven Dynamik und Banalität des Bösen heraus, treffen die Massen als namenlose Opfer und wiederholen sich in einem endlosen Kreislauf – während unsere mediengesättigte Gegenwart das Grauen durch Konsum seiner Bedeutung beraubt.
Das wurde umso deutlicher, da der Abend ohne ein einziges Wort auskam und gerade durch diese unmittelbare Sinnlichkeit bis ins tiefste erschütterte. Vis-à-vis thronten die Zuschauertribünen um die Spielfläche, so dass die einen die anderen sehen konnten – auch das hatte mit Konfrontation zu tun.
Da liegen sie in ihrer Erstarrung – fast hundert Menschen als entstellte, grotesk verschränkte Leiber auf monströsen, haushoch emporwuchernden Strukturen. Eingefrorene Bildsequenzen eines gerade erfolgten Vernichtungsangriffs. Der Angriff auf das spanische Guernica unter deutscher Beteiligung war einer der ersten systematisch kalkulierten Vernichtungsschläge auf eine Zivilbevölkerung. Sogar die Druckwellen der Explosionen wurden als gespenstisch bewegungslose Kulissen nachgebaut – ein visueller Coup von verstörender Wirkung.

Drohnen über Toten
Noch unheimlicher wird das Ganze durch ein Attribut, das die Verbindung zur Jetztzeit herstellt: Eine gespenstisch surrende Drohne kreist über den Gestorbenen und projiziert deren Leiber und Gesichter im Close-up auf Großbildschirme. Ein technisches Auge aus der Gegenwart wird zum perfiden Vermittler zwischen damals und heute: Wo früher Stukas Bomben warfen, schweben heute surrende Überwachungsmaschinen.
Allein das dieser Gruppe von vermutlich nicht professionellen Statisten abzuverlangen, ist eine Meisterleistung. Minutenlang in grotesken Verschränkungen zu verharren, macht die Schauspieler zu lebenden Mementi mori. Dass am Ende alle Beteiligten selbst das Bühnenbild auflösen und die Requisiten abräumen, wirkt wie eine Erlösung. Oder wie der Beginn eines neuen Kreislaufs?
Champagner und Pistolen
Teil zwei lenkt den Fokus auf die Täterebene. Da feiert eine fröhlich dekadente, kultivierte Gesellschaft den Geburtstag des spanischen Generals Emilio Mola, der als Befehlshaber den Bombenterror befahl. Unter den Feiernden sind auch deutsche Offiziere, die den Angriff ausführten. Champagner fließt, schöne Frauen lachen, Kinder spielen mit Pistolen und kleinen Flugzeugen. Auch schwarzuniformierte Nazis „bereichern“ das fröhliche Treiben.
Diese Orgie wirkt wie eine Parabel auf die Arroganz der Herrschenden – zelebriert von der belgischen Truppe mit enormer Spiellust. Hinter dem Champagner lauert die Banalität des Bösen. Das Grausame – ob diese Feier der spanischen Faschisten, die Wannseekonferenz der Nazis oder was auch immer – entsteht aus professioneller Routine und Normalität heraus. So war es in der Geschichte, so ist es in der Gegenwart.
Selfie vor dem Grauen
Teil drei entwickelt das dynamischste Narrativ und gibt dem Publikum am meisten Interpretationsraum. Eine Gestalt in verlumptem Outfit – Picasso? – bemalt eine große Plexiglaswand. Nach kurzer Zeit sind die ersten Umrisse jener berühmten Stilisierung des Kriegsgrauens sichtbar, die schon wenige Monate nach der Bombardierung entstand.
Auf der anderen Seite der Wand drängt sich eine sensationsgierige Menge: Touristen oder Ausstellungsbesucher – eine beliebige Masse, die nach dem Hype giert. Jeder will in der ersten Reihe dabei sein, das Smartphone zücken, instinktgesteuert vom gemütsstumpfen Herdentrieb. Aber je mehr hysterisch drängelnde Menschen die Bühne fluten, desto breiter werden die Pinselstriche auf der durchsichtigen „Leinwand“, bis schließlich nur eine stumpfe monochrome Fläche übrig bleibt – derweil Maurice Ravels Boléro seine stampfenden Wiederholungsschleifen in der Jahrhunderthalle ausbreitet.
Wenn Kunst zur Kulisse für Selfies wird, Geschichte als Konsumgut abgehandelt wird, sind alle Sinne vernebelt – so lange, bis das Grauen seine Bedeutung verloren hat. Eine brillante Metapher für unseren Umgang mit Kriegsbildern: Wir konsumieren das Grauen, bis es seine Bedeutung verliert.
Zirkuläre Logik der Gewalt
Es gibt keine Sprache, keine Erklärungen, keine Dialoge. Einzig die Wucht der atmosphärischen Bilder, die zu brillant kalkulierten Metaphern wurden, ziehen an diesem letzten Abend der diesjährigen Ruhrtriennale in einen Sog, der im Idealfall Erkenntnisse hervorbringt.
FC Bergman, bereits 2023 in Venedig mit dem Silbernen Löwen ausgezeichnet, haben mit den räumlichen Möglichkeiten der Jahrhunderthalle eindrucksvoll ihre Meisterschaft im Umgang mit Massenszenen und multimedialen Mitteln bewiesen. Es ist ein bildgewaltiger Warnruf, der das Publikum aus der Komfortzone schleudert – mit künstlerischer Präzision und ethischem Ernst.
Während manche Aufführung bei der Ruhrtriennale mit Untiefe zu kämpfen hatte, bot die finale Darbietung nochmal alles auf – gerade in einer Zeit, in der autoritäre Kräfte wieder erstarken und Kriege vor unserer Haustür toben. Nach der ersten Szene hatten die erwachenden Toten ihre Requisiten von der Bühne geräumt. Am Ende wurden jene Stative und Hilfsmittel wieder aufgebaut, die zu Anfang nötig waren, um das Bild der Toten zu inszenieren. Die Bühne ist frei für neue Opfer, die wohl bald kommen werden.
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| Ruhrtriennale | 21. August – 21. September 2025 |
| Festival der Künste | Bochum, Duisburg, Essen, Gladbeck |
Was die Ruhrtriennale 2025 so besonders macht:
- 100 Statisten als lebendes Mahnmal
- Drohnenbilder als Brücke zwischen Zeiten
- Kunst wird zur konsumierten Kriegsmetapher
“Guernica Guernica”: Violence without words
Guernica Guernica” marked the radical finale of the 2025 Ruhrtriennale. Belgian collective FC Bergman staged a wordless visual installation inspired by Picasso’s anti-war painting. With nearly 100 extras and monumental spatial design, the production created a tableau of horror: frozen bodies, stylized explosions, and a drone projecting the scene onto screens. The piece explores how violence emerges from collective dynamics and is drained of meaning by media consumption.
In part two, a decadent society celebrates General Mola—perpetrators become heroes, horror becomes routine. In part three, a figure—perhaps Picasso—paints the iconic image on plexiglass, while a frenzied crowd destroys it. Ravel’s Boléro underscores the cyclical logic of violence.
FC Bergman delivers a powerful visual warning that jolts the audience out of its comfort zone. The stage becomes a mirror of our present, where war imagery turns into selfie backdrops. In the end, the set is dismantled—ready for new victims.




