Und weiter geht’s mit dem jungen Tanztheater in München: Nach den Tausendsassas und –füßlern vom Gärtnerplatz stellt nun das bayrische Staatsballett im Prinzregententheater unter dem Motto »Heute ist Morgen« drei Arbeiten von Nachwuchschoreographen vor. Charlotte Edmonds aus London beschwört die Generation Goldfish, Özkan Ayik aus Hannover den Tag Zwei, und Emil Faski aus dem russischen Ufa macht auf Othello. Von Stephan Reimertz.
Generation Goldfish klingt schon soziologisch überzeugender als Generation Golf und dürfte sich als passendes Stichwort zur Selbstwahrnehmung und -charakterisierung der Wischi-Waschi-Jugend des Westens etablieren. Überkommene und übernommene Versatzstücke älterer Epochen, so ein kleiner Schreibtisch wie aus Onegin, Badewanne, Sessel und Fauteuils aus dem neunzehnten Jahrhundert stehen auf der mittelgroßen Bühne des Prinzregententheaters der Entwicklung der jungen Generation im Weg. Allein diese versucht, um die Asservate der Vergangenheit herum ihren Weg zu machen, ja sie in diesen einzubeziehen. Die Generation Goldfish besteht aus ödipalen Anpassern, die irgendwie durchflutschen. Die Choreographin hat die junge westliche Generation treffend skizziert. Charlotte Edmonds, eine Choreographieblüte des Royal Ballet, kann nicht in einem Flugzeug aus London gekommen, die zierliche Elfe im rosa Rock wird auf einer Holderblüte nach München geflogen sein. England ist immer noch herrlich altmodisch, gerade dann, wenn es modern sein will. Aber auch die kontinentale Jugend befindet sich bekanntlich auf dem Neo-Biedermeier-Trip.
Fische müssen tanzen
Zum zweiten Mal in dieser Saison haben wir es hier mit einem Fischballett zu tun; erst vor wenigen Wochen hatte am Gärtnerplatz Undine Premiere. Während die abendfüllende Choreographie von Karl Alfred Schreiner die ontogenetischen und metaphysischen Momente der Entstehung des Lebens wie der Menschwerdung auszuloten versucht, hängt Edmonds im Alltag. Ihr geht es um die Fischigkeit des Menschen und die Menschlichkeit des Fisches. Ebenso wie Schreiner verzichtet sie auf allzu plakative Schwimmbewegungen und versetzt die Handlung mit Hilfe subtiler choreographischer Pathosformeln und einer allerdings stark blubbernden Tonspur von Katya Richardson unter Wasser. Das Stück beginnt freilich mit einer Todsünde des Tanztheaters: Erläuterndem Text, hier zum Aquarium, das zugleich als Glaskugel aufscheint. Auch in der Mitte des Stückes gibt es noch einmal eine Sprechspur, zum Glück im leicht helvetisch gefärbten Deutsch des Ballettchoreographen und nicht, wie wir es sonst gewohnt sind, im Stil eines Englisch-Sprachlabors für Anfänger. Wenn schon Worte im Tanztheater, dann müssen diese die Handlung nicht illustrieren oder erläutern, sondern sich zu ihr in einem Komplementärverhältnis befinden. Hier hält eine Art Gymnastik-Sprachprogramm den in seiner Wohnung eingeschlossenen Corona-Krüppel in Bewegung, der Mensch folgt dem Computer auf dem Fuße. Die Witzigkeit des Ganzen ist begrenzt. Sind mit Generation Goldfish die Ballettfische für diese Saison gegessen, oder dürfen wir uns noch auf ein getanztes Forellenquintett freuen?
Großes Tanztheater von Özkan Äyik
Einen Tag Zwei darf es nicht geben! hat Jeff Bezos gefordert. Das wär schön, wenn man jeden Morgen sein Leben neu beginnen könnte! Der Alltag zeigt, wie man immer wieder in dasselbe Fahrwasser gerät. Daher ist jeder Tag ein Tag Zwei. Özkan Äyik, in Hannover noch als Tänzer auf der Bühne, legte mit seiner halbstündigen Choreographie Tag Zwei den Höhepunkt des Abends vor. Im Gegensatz zu den literarischen Balletten vor und nach ihm ist sein Werk strikt und konsequent durchchoreographiertes Tanztheater pur. Sechs schwarzgekleidete Tänzer auf der schwarzen leeren Bühne exemplifizieren ein brillantes, rein aus der Eigenlogik der Bewegungen entwickeltes Tanzstück voller überraschender und einprägsamer Wendungen. Es ist ja ganz klar, das Beste erzielt der Choreograph, der nicht von außen literarische Bilder auf den Tanz projiziert, sondern diesen sich aus sich selbst entwickeln lässt. Äyik ist eine große Begabung, die man im Auge behalten sollte, insbesondere im Hinblick auf die notwenige Neuorientierung des Tanztheaters. Mit dem bayrischen Staatsballett steht dem jungen Choreographen in München freilich auch eine hochprofessionelle, in jedem Moment disziplinierte Truppe zur Verfügung. Keiner der Tänzer schrubbt seinen Part herunter, jedem von ihnen ist Tanz das Lebensthema.
Grüße aus der ehemaligen Sowjetunion
Emil Faski aus Ufa stellt uns mit seinem Othello vor ein Rätsel. Will er mit dem Vier-Personen-Stück eine Huldigung an John Cranko und dessen berühmtes Kleeblatt anbringen? Tatsächlich mochte man in dem edlen, getäuschten Othello einen wiederauferstandenen Richard sehen, in der mädchenhaft flüchtigen Desdemona eine Marcia. Der Jago mit den bedrohlich moriskenhaften Bewegungen des Intriganten war eine echte Rolle für Egon, und die vergeblich moderierende, in Wirklichkeit zur Spielfigur degradierte Emilia hätte am besten Birgit verkörpert. Das Bewegungsrepertoire unseres John Cranko Jr. erinnerte nicht selten an des Ahnen Onegin und Der Widerspenstigen Zähmung. Im Vergleich zu den abendfüllenden Shakespeare-Balletten des Originals war unser Othello freilich auf eine halbe Stunde zusammengeschnurrt und entsprechend grobschlächtig. Die neoromantische Musik trug zur Werbeästhetik des Schmachtfetzens bei. Wahrscheinlich hat sich Emil Faski bei Deutschland, dem Ursprungsland des modernen Tanztheaters gedacht, es handele sich um Ballettprovinz, der man am besten etwas, das sie kennt, vorsetzt.
Erfreuliche Atmosphäre am Prinzregentenplatz
So hätte der ganze Abend besser Heute ist Gestern heißen müssen. Diese dritte Münchner Tanztheater-Uraufführung innerhalb kurzer Zeit verfügte freilich mit dem Prinzregententheater, diesem verkleinerten und versteinerten Bayreuther Festspielhaus voller Stuck, über ein weit offeneres und geeigneteres Terrain als den Carl-Orff-Saal im Gasteig, der an Charme nur von einem Luftschutzbunker übertroffen wird, und selbst dem traulichen Gärtnerplatztheater. Das Publikum war vielfältiger, durchmischter und trug mit einem Hauch von Maximilianstraßen-Chic zum visuellen Gelingen der Premiere bei. Um die Flut von Drucksachen einzudämmen, sollte die Staatsoper allerdings endlich dazu übergehen, Programmhefte nur noch fürs Smartphone herzustellen und die vielen Millionen, die man dadurch einspart, in den Dialog mit der Jugend zu stecken. Andernfalls haben wir in ein paar Jahren kein Publikum mehr. Der Autor dieser Zeilen hat selbst als Schüler sehr von der engen Zusammenarbeit der Oper Frankfurt mit den Schulen der Region profitiert. So waren wir als Schüler u. a. in der Produktion von Luigi Nonos Al gran sole carico d’amore eingebunden und standen in dauerndem Kontakt mit allen Mitwirkenden. Viele Opern- und Ballettfans wurden damals unter den Schülern herangezogen, die heute das Rückgrat des internationalen Publikums bilden.
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