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Internationale Händel Festspiele-Göttingen 2023

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The delightful taste of love, jealousy and enlightenment.
Von Barbara Röder.

Im göttlichen Göttingen fanden sie wieder statt: Die Internationalen Händel-Festspiele 2023. Seit Jahrzehnten, genauer seit 1920, beflügelt die fantastische Klangwelt, das musikerzählerische Gesamtkunstwerk des Tonkunstmagiers Georg Friedrich Händel, die barockaffinen Menschen und Macher. Und es spornt bis heute ihre Kreativität an. In der weltweit ältesten Händel-Festspielstadt und Aufführungsstätte wirkte der helle Geist des Naturforschers, Physikers und Mathematikers Georg Christoph Lichtenbergs im Zeitalter der Aufklärung. Göttingen ist eine quirlige Universitätsstadt der Wissenschaft, des Geistes und der Musik, die jährlich das internationale Publikum anlockt.

„Hellas!“, schwingt als Headline auf den wehenden Fahnen in der Stadt und über den weltweit geschätzten Festspielen in Göttingen. Die wundersamen Sagen und Erzählungen der griechischen Mythologie, die Händels Fantasie für seine Oratorien entzückten, stellt der künstlerische Leiter George Petrou dieses Jahr in den Fokus seiner illustren musikalischen Zeitreise ins London von 1743-1745. In jener Zeit komponierte Händel seine Oratorien „Hercules“ und „Semele“. Beides sind Werke, die in englischer Sprache gesungen, in nichts seinen italienischen Opern, den Dramma per Musica nachstehen. Überschäumender geballter virtuoser Gaumenschmeichelei und packenden Storys um Liebe, Verrat, Täuschung und reißerischer Herzschmerz-Tragik sind darin ebenso gebannt.

Als um 1740 die Lust der englischen Society auf Opern mit italienischen Libretti erlosch, Händel als Operndirektor ruiniert war, besann dieser sich wieder intensiver auf das Oratorium, die „Drama Musicals“. In den recht aufschlussreichen „pre-performance talks“, die vor den jeweiligen Vorstellungen im Deutschen Theater Göttingen Englisch sprechendem internationalen Gästen angeboten werden, zückte der profunde Händelexeget und exquisite Kenner der Musik und Korrespondenz Händels, Prof. Donald Barrows aus London, so manchen Originalbrief (als Kopie selbstverständlich), Londoner Zeitungsankündigungen und Kompositionspartitur. Prof. Barrows machte sehr deutlich, dass Händel bereits 1710 beim Betreten des englischen Bodens Oratorien geschrieben hatte und seitdem nie aufhörte, englische Texte für Chor in Töne zu setzten. Immerhin kam er ja auf 25 Oratorien. Einige entstanden in seiner italienischen Zeit 1707 in Rom, Florenz oder Venedig. In Covent Garden London standen seit 1734 in der italienischen Opernsaison immer wieder Händels englische Oratorien mit biblischem Inhalt auf dem Spielplan und wurden explizit in der Zeitung angekündigt.

Händels musikdramatischer Schöpfergeist wandte sich nach seiner ruinösen Niederlage als Operndirektor zum ersten Mal zwei mythologischen Sagengestalten zu: Hercules und Semele. Händel war beseelt davon, aus dem Geist der Musik dramatisch handelnde, tief empfindende Menschen erlebbar zu machen. Er brachte singende Menschenseelen mit göttlichen Ambitionen auf die Bühne des Lebens und dies im Gewand eines Oratoriums. Mit „Hercules“ und „Semele“, beide im mystisch-mythologische Griechenland beheimatet, begegnen uns menschliche Götter ebenso wie göttliche Menschen, denen Liebe, Begehren, Verlangen und tiefes Sehnen in beredsame Arienzärtlichkeit getaucht als tobende Klanggewalt aus dem Innersten strömt.

Am Eröffnungswochenende der Internationalen Händel-Festspiele Göttingen entsteigt aus dem magisch klingenden Zauberwunderkasten ein in der St. Johanniskirche aufgeführter, betörend schöner „Hercules“ und eine musikalisch-szenisch illustre „Semele“.

Die „Metamorphosen“ des Ovid und ein vergessenes englisches Libretto, das der „Semele“ von William Congrave – er hatte es 1707 für John Eccles verfertigt – inspirierten Händel . Als „After a manner of an oratoriao“ wurde die „The Story of Semele“ im London Daily 1744 angekündigt. Die als obszön und recht frivol empfundene Liebesgeschichte um die, von Jupiter geraubte Semele, welche selbstherrlich und leichtfertig Göttin werden möchte und vom Blitz ihres Geliebten getroffen bei lebendigem Leib verbrennt, erregte Aufregung und Ablehnung. Die Moral der sittlichen Upper – Class geriet in Gefahr und „Semele“ war ein Misserfolg beschieden, trotz der furiosen Bravourarien seiner Heldin. Händels zeitnaher, in Englisch gesungener „Hercules“ (1745) und in London als „A New Musical Drama“ bezeichnet, schildert Hercules zwischen zwei Frauen. Seine von seiner Gattin Dejanira nachgesagte Untreue mit Iole, ihre sich verzehrende Sehnsucht, die sich zur rasenden Eifersucht auswächst, bescherten der Opernwelt einer der eindringlichsten „Wahnsinnsszenen“ überhaupt noch, bevor „Anna Bolena“, „Norma“ oder „ Lucia die Lammermoor“ die Bühne betraten. Dejaniras „Irrwahn der betörten Liebe“ erwächst langsam und entlädt sich in „Where shall I fly“. Dejanira, die in Schmerz badet, versinkt qualvoll in der schwarzen Nacht. Einem Shakespeare Drama gleich, wir sind in die Welten von Lady Macbeth oder die des Otello hineingeworfen, entfacht Händel in Dejaniras Abgesang gesanglich furios – virtuose Höllenqualen und irdisches Vergehen inklusive überbordender Trauer. Weltstar Vivica Genaux brennt in der voll besetzten St. Johanniskirche als Eifersucht sprühende Gattin Dejanira mezzoglühende Fackeln der Virtuosität ab. Denn Dejanira, die Hercules um seine Liebe wiederzuerlangen, ihm unwissend ein von Nessus vergiftetes Hemd schenkte, muss zusehen wie dieser bei lebendigem Leib verbrennt. Herzstücke des „Hercules“ sind die markant ins Geschehen hinein geflochtenen Chorkommentare. „Jealousy infernal pest“, die tönende Eifersucht, die wie eine Hydra von der Seele Besitz zu nehmen scheint und sich wie die Pest im Inneren Dejaniras ausbreitet, wird vom glockensauber singenden NDR Vokalensemble geflüstert, gehaucht und mit geballter Inbrunst intoniert. Hier öffnen sich tiefschwarze vokale Abgründe. Einstudierung Klaas-Jan de Groot.

Die Entdeckung des Abends ist der Leidenschaft ausstrahlende, tief beseelt singende Charakter-Bass-Bariton Andreas Wolf (Hercules). Wolfs „I burn, I burn, I rage, I rage“ aufgewühlte, mit Urkraft und Delikatesse durchdrungene Bitte an Neptun, den Ozean auszuschütten, um sein kochendes Blut zu kühlen, bleibt in lebendiger Erinnerung. Vollmundig und wohlig dunkel gestaltet die Altistin Lena Sutor-Wernich die Partie des Lychas. Auch sie ist eine exquisite Ausnahmeinterpretin, die man sich merken muss. Die Sopranistin Anna Dennis (Iole) besticht mit ihrer delikaten englische Aussprache und klarer Diktion. Der dunkle samtige Tenor von Nick Pritchard (Hylus) reiht sich in das vorzügliche Ensemble. In rauschhafter Brillanz und großartiger musikalischer Präzision spielt das FestspielOrchester Göttingen, welches unter dem Dirigat von George Petrou die wundersame vergangene Helden- und Götterwelt sowie die mit Herzblut kämpfenden starken Frauenfiguren zu echten Menschen von heute werden lässt.

George Petrou, Dirigent und Regisseur in Personalunion, der zudem der künstlerische Leiter der Internationalen Festspiele-Göttingen ist, entführt uns am nächsten Abend in eine unterhaltsame, kurzweilige „Semele“ mit eindringlich schönen Bildern und überbordend farbreichen Bravourarien.

Majestätische Opulenz im Klang, Überfülle des Wohllauts legte sich schon zu Beginn der Trauer schweren Ouvertüre wie ein dunkler Schatten über das Geschehen. Petrou inszeniert Händels „Semele“ von deren schicksalhaften Ende her, als zeitgemäße Story. Semele, Geliebte des Jupiters, wollte die Unsterblichkeit. Als Jupiter sich ihrem Wunsch gemäß in seiner wahrhaften Gestalt als „mighty thunderer“ offenbart, verbrennt sie. Wir treffen Semele an ihrem Sterbebett. Ihr Sohn Dionysos, den Jupiter gezeugt hatte, wurde gerade geboren. Sie durchlebt den Beginn ihrer Liebe bis zu ihrem Tod im Flammenmeer. Wirft im Todeskampf im Kreissaal einen letzten Rückblick auf ihr Leben. Einst sollte sie mit Athamas vermählt werden. Counter Rafał Tomkiewicz erfreut hier mit heller leidvoller Tongebung in seiner herzzerreißenden Air „…in pity of my sad despair“. Im Tempel, der Kirche während der Hochzeitsvorbereitung fleht Semele darum, mit Jupiter vereint zu sein. Dieser raubt sie abenteuerlich als Adler. Denn Jupiter ist ein Verwandlungskünstler. Das macht Petrou sichtbar, als sich im zweiten Akt ein Bettler als Lebemann Jupiter entpuppt und dieser dann seine Semele in einem goldenen Käfig des Reichtums als Liebessklavin gefangen hält. (Bühne: Paris Mexis Bühnenbild und Kostüme)

Besser als jede tragische Soap-Opera Serie spult sich das Geschehen vor unsern Sinnen ab inklusive hochexplosiver Arienvielfalt. Der schöne, Blitze funkelnde Tenor von Jeremy Ovenden (Jupiter/Apollo) passt famos zu aller Herrlichkeit dieser Slapstick prägnanten, vom munteren Gags betonten Inszenierung. Aber wir sahen und hörten auch ein modernes Gleichnis, das ins Heute übertragen, immenses Potential und Tiefgang besitzt. Mit einem honigsüßem Sopran, heller Anmut und enormer Spielfreudigkeit bestach Marie Lys als Semele. Sie ist eine Ausnahmeinterpretin. Ihr eitler Blick in den Spiegel indem sie bekennt:  „Myself I will adore…“ ist der Moment, in dem sie dem Tod anheim gegeben ist. Dies ist eine barocke Metapher, die Händel Arien gewaltig, ausdeutet. Gefühl- und fantasievoll brilliert als Ino, (Semeles Schwester) Vivica Genaux. Und als Juno rast sie vor Eifersucht in wilder Koloraturenseligkeit. Eine Doppelpartie, die Genaux grandios steht. Zudem trägt diese feurige Juno Prada. Das passt! Mitreißend agiert Marilena Striftombola (Iris, Cupid) im Stewardess Look und als Rauschgoldengel – Cupido. Ein bisschen sexy Zuckerguss muss sein in dieser „Semele“ Inszenierung. Bariton Riccardo Novaro klingt balsamisch in der Partie des Cadmus, König von Theben, dem Yogi Somnus oder High Priest, der am Schluss das glückliche Paar Ino und Athamas trauen darf. Die High-Class Gesellschaft feiert sich mitsamt, Personenkult, Schönheitswahn, Hybris, Intrigen, Lug und Trug wieder einmal selbst. „Happy, happy we shall be“ singt der zu großen Gefühlen auflaufende Kammerchor Athen. Die Freuden der Liebe haben gesiegt. Damals wie heute die gleichen Spielchen. Schwärmen muss man unbedingt von dem mit überragender Brillanz spielenden FestspielOrchester Göttingen unter dem aufmerksamen und klangintensiven Dirigat George Petrous. Intonationssicherheit, tänzerischer, perkussiver Charme und eine fulminante Basso Continuo Gruppe (der Cellist Iason Ioannou verwandelte die Air der Ino „Turn, hopeless lover, turn thy eyes“ in einen innigen Zwiegesang) veredeln das musikalische Zauberkunstwerk.

Die internationalen Händelfestspiele Göttingen avancierten erneut dank ihres Aufgebots der weltbesten Barockinterpreten und den vielfältigen, gut durchdachten Events zur Händel-Botschafterin per Exzellenz. Wie jedes Jahr im Monat Mai lädt die Weltkulturhauptstadt der tönenden Pflege der Werke Georg Friedrich Händels und seiner Zeitgenossen zum gemeinsamen Erkunden und Erleben ein. Dafür ebenso Standig Ovations und jubelnder Beifall wie für die Oratorien „Hercules“ und „Semele“!

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