Marius Hulpe schreibt über die Fesseln von Familie und Herkunft. Rezension von Barbara Hoppe.
Es ist eine alte Frage, die Marius Hulpe in „Wilde grüne Stadt“ neu aufwirft: Können wir uns von den Fesseln unserer Familie, unserer tradierten Verhaltensmuster und den gesellschaftlichen Zwängen lösen?
Die Antwort ist keine einfache. Und der Autor macht es seinen Figuren nicht leicht. Er versteht es meisterhaft, die Enge einer erzreligiösen westfälischen Kleinstadt und die Zerrissenheit seiner Personnage einzufangen. Es sind leidvolle Erfahrungen und vergeblich sucht man das Unbeschwerte von Liebe, Geborgenheit und Familiensinn. Stattdessen ist der Kampf, den Reza und Clara kämpfen, ein aussichtsloser.
Reza, der aufgrund von Ungehorsam in der persischen Armee 1960 als Spion nach Deutschland geschickt wird. Er macht Abitur, absolviert ein Agrarstudium und sendet regelmäßig alles, was er zu technischen Innovationen finden kann, in die Heimat. Dort wird die Stimmung immer angespannter. Und als der Schah gestürzt wird, weiß Reza, dass es kein Zurück für ihn gibt und genau genommen auch kein Vorwärts. Denn alles, was ihn ausmachte, verschwindet mit dem Sturz der alten Gesellschaft in Persien. Da hilft ihm auch nicht, dass er mit Bettina verheiratet ist und mit Clara zusammenkommt, sich schließlich noch einmal verliebt und dabei eine kinderreiche Spur hinterlässt. Seine Frauen kommen aus deutsch-katholischer Kleinstadtpiefigkeit, die sich wie eine unsichtbare Haut über sie gelegt hat.
Clara, die in der Kürschnerwerkstatt ihres Vaters Willi lernt und dessen Nachfolge antritt, muss nicht nur mit dem zunehmenden Protest gegen echten Pelz zurechtkommen. Vielmehr muss sie, die ihr Herz immer an Ausländer verschenkt und am Ende mit zwei unehelichen halbdeutschen Kindern – Sheva und Niklas – dasteht, mit dem gesellschaftlichen Erbe ihrer Eltern und dem Wunsch, frei und unabhängig zu sein, fertig werden. Die ganze Enge und der Konservatismus fokussiert sich in der Person des Standesbeamten, der nicht nur den Namen der Tochter ablehnt, sondern es auch nicht akzeptieren will, dass Clara auf die Angabe des Vaters verzichtet. Ob 1972 oder 1982 spielt dabei keine Rolle.
Mittendrin steht Niklas, Sohn von Clara und Reza. Selbst 1990 sind die Anfeindungen, die seine unübersichtlichen Familienverhältnisse in der Gesellschaft auslösen, nicht vorbei: Die Mutter, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, ein irgendwie intaktes Familienleben zu führen und trotzdem frei und selbstbestimmt zu sein, Oma Berta, die einst über ihre unkonventionelle Tochter entsetzt war und jetzt nur noch vor sich hinlacht, Vater Reza, der inzwischen im entfernten Berlin lebt, Niklas kaum zu Gesicht bekommt und ihm die anderen Geschwister vorenthält, die rebellische große Schwester Sheva, deren Vater ein Rumäne ist und Niklas selbst, äußerlich eindeutig nicht „rein-deutsch“ werden misstrauisch beäugt, gemobbt und beleidigt. Noch 2009 erlebt Reza, schließlich im Badischen zu Hause, den Fremdenhass einer dörflichen Gasthausgemeinschaft, was jedem Glauben an eine Multi-Kulti-Gesellschaft Lügen straft.
Geschickt springt Marius Hulpe, bisher bekannt für seine Gedichte, in seinem Debütroman zwischen den Zeiten – und schafft damit ein Mosaik zerklüfteter Leben. Von 1960 bis 2011 spannt er den Bogen, nicht chronologisch, sondern immer so, das erkennbar bleibt, wie bestimmte Zeiten das Hier und Jetzt prägen. Claras Wunsch, auszubrechen ist nicht umsonst in den sechziger Jahren angesiedelt und muss in der Enge der katholischen Kleinstadt steckenbleiben. Der Sturz des Shahs bedeutet für Reza das Ende der Abhängigkeit von der Heimat, die er dennoch nicht abschütteln kann. Politisch immer noch im Iran verwurzelt, begegnen ihm die Menschen in Deutschland bis zum Schluss mit Misstrauen.
Vielleicht ist es seine Erfahrung im Schreiben von Gedichten, die Marius Hulpe zu diesem wohlkomponierten und eindrücklichen Roman führte, indem sich am Ende ein Kreis schließt. Heimat, Fremde und Miteinander sind Themen, die nie vorbei sein werden. Tief hinein begibt er sich in die Befindlichkeiten seiner Protagonisten und legt den Finger in eine Wunde aus Liebe, Familie, Herkunft und Politik.
Marius Hulpe
Wilde grüne Stadt
DuMont Buchverlag, Köln 2019
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