Bei den Münchner Opernfestspielen präsentiert der Dixhuitième-Experte Bolton mit dem Münchner Kammerorchester eine Haydn-Oper in musikalisch ausgereifter Gestalt. Die Inszenierung von Orlando Paladino hat jedoch ein Problem: Die Gespenster des Regietheaters stehen aus dem Grabe auf. Von Stephan Reimertz.
Engländer spotten über ihren Landsmann Ivor Bolton, indem sie seine Unabhängigkeit vom Schlankheitswahn ebenso hervorheben wie vom Modeterror. Tatsächlich könnte man den untersetzten Mann in Aussehen und Bewegungen für einen Handwerker halten. Bis man seine Hände sieht. Um solch feinen, sensiblen Hände zu finden, kann man bis in die Malerei des Spätmittelalters, etwa zu Hans Memling zurückgehen. Als Dirigent von Joseph Haydns Oper Orlando Paladino darf man Bolton nun dabei zuschauen, wie er die Musik aus dem Nichts heraus modelliert. Das ist der entscheidende visuelle Eindruck dieser Produktion. Ansonsten hält man sich besser die Augen zu. Die Tempi, in München so oft falsch, hat Bolton im kleinen Finger. Einen Dirigentenstab braucht er nicht. Das Münchner Kammerorchester ist das ideale Instrument für diese Komposition Haydns, die uns immer wieder mit neuen Ideen und Wendungen entzückt. Deutlich abgespeckt gegenüber einem Symphonieorchester des neunzehnten Jahrhunderts, besticht dieser Klangkörper immerzu aufs Neue mit geradezu solistischer Verve.
Spielt mehr Haydn-Opern!
Ende Mai 1809 starb während des Einmarsches von Napoleons Truppen in Wien ein Mann, dessen Leben durch Genialität, Güte und Ruhm gekennzeichnet war. Als Komponist und Schöpfer der Wiener Klassik, als liebenswerter Mensch und vornehme Figur der Zeitgeschichte erlangte Joseph Haydn Ruhm. Seine Bedeutung für die Kammermusik und die Ausbildung moderner musikalischer Strukturen machten ebenso Epoche wie er als Opernkomponist.
Das noch heute vor allem in Ungarn und in Franken bestehende Fürstenhaus Esterházy von Galántha goss, pflegte und zog diese Pflanze, die wir Joseph Haydn nennen, bis sie zum gewaltigen Baum erwuchs. Haydn gehörte der Generation von Leopold Mozart an, und mit dem hochgebildeten Augsburger verband ihm viel; Neid kannte er keinen. Er sagte dem Kollegen frei heraus, für wie genial er dessen Sohn halte. Dieser droht das Werk seines Vaters ebenso zu verschatten wie das Haydns, auch darum sind wir dankbar für die neue Produktion in München. Sie hat den Vorteil, eine allseits bekannte Episode aus dem Orlando Furioso zu vertonen. Haydn verwandte für sein Werk nach dem Libretto von Nunziato Porta den Gattungstitel Dramma Eroicomico, und tatsächlich changiert die Musik zwischen dem Heroischen und dem Komischen, wenn sie die Geschichte um Ritterrivalität und Liebesabenteuer mit Vergnügen und Esprit entwickelt.
Die bösen Geister der Vergangenheit
Die reife und verfeinerte musikalische Verwirklichung befindet sich hier in grotesker Disharmonie mit der frechen und ahnungslosen Inszenierung. Falko Herold zeigte sich noch als feinsinniger Kostümbildner, besonders bei den Kleidern für die Damen, die saisonbedingt delikate Luftigkeit boten. Das Kino-Interieur, das er auf die Opernbühne verfrachtete, war hingegen wenig inspirierend. Da die Sänger-Darsteller während des ersten Aktes alles demolieren, können sie sich im zweiten und dritten Akt auf der Bühne allerdings weit besser entfalten. Dennoch ist das Modell des toten Pferdes, das im zweiten Akt auf der Szene liegt, ein Symbol für die ganze Inszenierung. Adela Zaharia als Angelica ist eine strahlende Schönheit, besitzt eine leuchtende und modulationsfähige Stimme und macht sich auch als Stummfilmstar im Stil der Zwanziger Jahre recht gut. Regisseur Axel Ranisch fiel zur Handlung aus dem Hauptwerk von Ariost nämlich nichts ein, darum verlegte er die Aktion in ein Kino. Das ist ebenso öde wie einfallslos. Man kann die Inszenierung nur als völlig verfehlt und abgeschmackt betrachtet, und so kam sie beim Publikum auch an. Seit vierzig Jahren klagt und stöhnt das Opernpublikum über anmaßende und sinnwidrige Opernregie. Die Intendanzen bombardieren die Besucher mit umfangreichen Programmheften und Stößen von Informationsmaterial, um uns ihre Absichten darzulegen. An den Gedanken und Reaktionen der Opernbesucher sind sie ihrerseits nicht interessiert. Sonst könnten sie längst wissen, wie sehr das Opernpublikum einen authentischen, angemessenen Regiestil herbeisehnt, aber von Mal zu Mal aufs Neue enttäuscht wird. Die Regisseure gebärden sich, als befänden wir uns immer noch im Jahre 1970. Eine seltsame Erscheinung bei einem Regisseur des Jahrgangs 1983 wie Axel Ranisch. Offenbar entdeckt er neu, was zehn Jahre vor seiner Geburt schon passé war.
Das Publikum sollte in den Ausstand treten
Filmmilieu und Filmtrailer während der Ouvertüre, dergleichen scheiterte schon in der berüchtigten Salzburger Entführung während der Mozartwochen und in der Frankfurter Lustigen Witwe, um nur zwei Beispiele aus der letzten Zeit zu nennen. Im Totenhaus, gerade in München inszeniert von Frank Casdorf, kann man sehen, wie man Film und Video intelligent in einer modernen Operninszenierung einsetzt. Axel Ranisch jedoch ist ein Regisseur, dem es an Einfühlung, Bildung und Kultur mangelt, und der sich in der Verantwortung für ein komplexes Werk aus dem achtzehnten Jahrhundert als denkbar ungeeignet erweist. Das ist die Generation von Regisseuren, die außer Medientheorien und Mickey Maus nicht viel studiert hat, vor allem kein Ariost und Haydn. Die engagierten Sänger, allen voran Edwin Crossley-Mercer als Rodomonte, Mathias Vidal als Orlando, Dovlet Nurgeldiyev als Medoro und David Porillo als Pasquale zeigten in ihrem intelligenten und strahlendem Gesang, wie sehr sie das Werk in seiner Komplexität, seinem Humor und seinem Pathos voll und ganz durchdrungen haben, ganz im Gegensatz zu ihrem Regisseur. Warum gibt es nicht endlich einen Streik der Sänger gegenüber solchen Regisseuren? Sonst werden wir eines Tages den Generalstreik des Publikums erleben.
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