Für die Biennale für Elektroakustische Musik und Klangkunst KONTAKTE muss man radikal offen sein. Hier gibt man Musik einen Rahmen, die in keinen Rahmen passt. Julius Trittel hat sich auf eine aufregende Klangreise begeben.
Wir befinden uns unweit der Siegessäule an der Berliner Akademie der Künste (ADK). Kontakte heißt die Biennale für Elektroakustische Musik und Klangkunst, die sich mit dieser Ausgabe zum dritten Mal jährt und zwischen dem 25. und 29. September zum Schauplatz für eine beträchtliche Vielfalt an Projekten und Installationen wurde. Ein Blick in die Programmbroschüre offenbart, dass hier lange im Voraus und ins Detail geplant wurde. Über fünf Tage erstreckt sich das kuratierte Programm, das von renommierten Institutionen, wie dem Shanghai Conservatory of Music, über individuelle und unabhängige Künstler aus aller Welt bis hin zu lokalen Gruppierungen, wie dem Elektronischen Orchester Charlottenburg reicht.
KAYAPÓ
Kayapó – der erste Stopp. Eine Installation, die im Gräsergarten der ADK ihren Platz gefunden hat und dort zugegebenermaßen perfekt aufgehoben ist. Es handelt sich um eine Uraufführung des kanadischen Veteranen der elektroakustischen Musik, Robin Minard. Kayapó ist der Name einer indigenen Bevölkerungsgruppe aus dem brasilianischen Amazonas-Regenwald. Ihr und der Guarani-Bevölkerung ist diese Installation gewidmet, wie man es dem Infoblatt zur Installation entnehmen kann.
Beim Betreten des Außenbereichs wird man als Besucher in zwei Rollen gestoßen: man wird zugleich zu Zuschauer und Zuhörer. Merkwürdig erscheint der erste Eindruck, in diesen mit Kieselstein-Fliesen versehenen und mit einem unregelmäßigen Muster an hüfthohen Gräsern bewachsenen Garten zu treten. Im Hintergrund hört man zwitschernde Vögel und eine englische Stimme aus dem Off. Erst nach einer kurzen Weile wird die Aussage von Kayapó deutlich: parallel zu Feldaufnahmen, die Robin Minard 2018 im Amazonas machte, zählt die Männerstimme in einem nüchternen, besonnenen und fast kühl klingenden Ton Vergehen an insgesamt 46 Opfern der Kayapó und Guarani Stämme auf. Es sind Geschichten wie „Genivaldo de Moraes. Jugendlicher Guarani. Er wurde in der Nähe seines Hauses enthauptet gefunden.” oder „Luiz Vicente Karton. Yanomami. Von Goldsuchern in den Kopf geschossen, während er sie durch das Yano-Mami-Land führte, weil er es abgelehnt hatte, sie weiter in indigenes Gebiet zu führen.”. Man muss schlucken. Es sind Geschichten, wie man sie aus Gangster-Filmen kennt. Allerdings wird die Thematik hinter diesen Geschichten erst durch eine genauere Internetrecherche wirklich deutlich: Die Bevölkerungsgruppen, um die es geht, werden seit geraumer Zeit mit Gewalt und wenig Gnade von ihrem Land vertrieben – und haben dafür oft mit ihrem Leben zu zahlen.
Es handelt sich bei Kayapó um eine vielschichtige Installation, die abends bei Dunkelheit einen noch mystischeren Charakter annimmt und dein Eindruck erweckt, Teil des Amazonas zu sein. Minard, dem Künstler, ist die Wirkung gelungen; der Besucher wird kurz nach dem Betreten von der Dramaturgie absorbiert – ob er will oder nicht. Allerdings fällt eines auf. Die Ausführung des Werkes ist durchaus clever aber manipulativ gestaltet, indes dass dem Besucher keine andere Option gelassen wird, als die Thematik aus der Sicht des Künstlers zu betrachten.
BERLINER LAUTSPRECHERORCHESTER
Als nächstes steht der Auftritt des Berliner Lautsprecherorchester an. Auf der Bühne verteilt sind ein Cello, eine Snaredrum und eine Tom – nur die Instrumente, keine Musiker. Lautsprecher stehen im Raum verteilt, einige hängen unauffällig unter der Decke. Es handelt sich um eine Installation von Absolventinnen und Absolventen der UdK und der Hochschule für Musik Hanns Eisler.
Die Künstlerinnen der ersten zwei Stücke jagen mal metallisch klingende Sounds, mal ganze Klanglandschaften durch den Raum. Mit Feingefühl lassen sie die Geräusche, denen jegliche Harmonie und Tonart fehlt, zum Leben erwachen; geben ihnen Charakter. Hin und wieder wird es still. Langsam, fast schon schüchtern bewegen sich die Sounds um den Hörer herum. Mal fliegen die Geräusche von hinten rechts nach vorne links, mal schleichen um einen herum. Angenehm und der Hörgewohnheit entsprechend sind diese Sounds keineswegs. Sie sind verzerrt, abstrakt.
Nach dem ersten, rein auditiven Performance, wird bei der zweiten Aufführung eine visuelle Ebene hinzugefügt. Kurz nach Beginn tritt ein Tänzer in den dunklen Raum. An der linken Seite des Raumes befindet sich eine Wand aus wellenförmigem, halbdurchsichtigem Glas. Vor der Glaswand, die von der Rückseite beleuchtet ist, bewegt sich der Tänzer geräuschlos, energisch. Mal hektisch, mal ruhig, stets gekonnt, rund und flüssig. Er fügt den parallel laufenden Sounds mit seiner Choreographie eine zusätzliche, sehr künstlerische Ebene hinzu, die das Publikum begeistert.
Der dritte Teil des Berliner Lautsprecherorchesters ist eine Film- und Toninstallation, die eine vollkommen eigene, sehr humorvolle Art der Kritik an der Politik, der Gesellschaft und dem Internetzeitalter zum Ausdruck bringt. Mittels zusammengeschnittener Ausschnitte von Youtube-Videos springt der Künstler zwischen verschiedenen Thematiken hin und her, geht mal tiefer auf Bestimmtes ein, deutet anderes nur an und baut seinen ganz eigenen Spannungsbogen auf. Die Dynamik des Stücks spiegelt sich im Publikum wieder. Mal herrscht Verwunderung, mal Verwirrung; gegen Ende hin hört man vereinzelte Seufzer und kollektives, herzhaftes Lachen.
DEGEM KONZERT
Am frühen Abend begibt sich das Publikum in das “große Parkett”, einen eleganten und dumpf klingenden Raum im Maße einer großen Schulaula. Die DEGEM – die Deutsche Gesellschaft für Elektroakustische Musik – präsentiert bei diesem Konzert Werke im Rahmen einer diesjährigen Ausschreibung. Einen interessanten Aufbau bietet dieses zweistündige Konzert, bei dem das kürzeste Stück sieben und das längste Stück zwanzig Minuten dauert. Herausfordernd erscheint es, alle die losen Enden zu verbinden und die gewaltig Vielfalt an hörbaren Phänomenen, die in diesen zwei Stunden durch den Raum raunen, in Worte zu fassen. Es sind Sounds, von denen man teilweise nicht wusste, dass sie gar existieren könnten, die da aus den Computern der Künstler kommen. Es ploppt, platzt, vibriert, kratzt, klingt verzerrt – sehr verzerrt. Im Gegensatz zu Kayapó ist man hier „nur” Zuhörer; vollkommen auf das fokussiert, was man hört. Der verdunkelte Raum lädt dazu ein, die Augen zu schließen. Die Akustik und Soundanlage sind hervorragend.
Highlight des Konzertes – gemessen an der Dauer und Intensität der Applause – sind die Stücke SHIFT von Andre Bartetzki (DE), Neues Werk von Magdalena Dlugosz (PL) und Huellas entreveradas von Beatriz Ferreyra (AR). SHIFT wird in der Broschüre von dem Künstler selbst als „psychoakustische Musik für 140 oder mehr Oszillatoren” beschrieben. Und ja, das Gefühl stimmt mit dieser Beschreibung überein. Andre Bartetzki schafft es, den gesamten Raum mit seinen „140 oder mehr Oszillatoren” sehr langsam aber stetig intensiver levitieren zu lassen. Man bekommt das Gefühl, mit allen anderen Besuchern in einem UFO zu sitzen, das langsam abhebt, kurz schwebt und danach wieder landet. Psychoakustisch ist dieses Stück allemal. Magdalena Dlugosz’ Werk vermischt streng elektroakustische Elemente und Geräuschlandschaften mit Feldaufnahmen aus der echten Welt und bringt somit zwei gegensätzliche Ebenen stilvoll zu einem Konsens. Die Argentinierin Beatriz Ferreyra bietet dem Zuhörer zuletzt noch ein einfühlsames, leicht verdauliches Stück mit weiten, sanften soundscapes, Klanglandschaften. Dass gerade ihr Stück an das Ende des Konzerts gesetzt wurde, passt wie die Faust aufs Auge und deutet von einem erstklassigen Dramaturgieverständnis von Seiten derjenigen, die den Ablauf festgelegt haben.
MODULARSYTNHESIZER-NACHT
Der letzte Halt des Abends führt ins Studiofoyer. Aufgebaut sind Urgestalten aus dem Synthesizer-Universum, Maschinen, dessen Funktionsweise man nicht versteht, wenn man nicht mindestens Jahre in sie investiert hat. Umengen an Kabeln verknüpfen – wie es bei Modularsynthesizern immer der Fall ist – die verschiedenen Bauteile miteinander. Erst durch das sogenannte Routing, also dem Wegweisen der Signale mittels der Kabel, werden Geräusche, Töne und Klangphänomene hörbar. Das, was Thomas Lehn und Richard Scott an ihren EMS Synthesizern veranstalten, hat mit diesen Grundlagen jedoch wenig zu tun. Intuitiv, gekonnt und leidenschaftlich stecken sie die Kabel von hier nach da um, reißen sie heraus. An wenigen Orten bekommt man solch passionierte Synthesizer-Musiker zu sehen. Eindrucksvoll erarbeiten sie sich jeden einzelnen Sound, setzen Mühe, Schweiß und Leidenschaft in ihre Performance und erkämpfen sich blutig ihre Sounds. Das dritte Mitglied der Gruppe ist Ute Wassermann, die ihre Stimme einsetzt, als wäre sie ein modularer Synthesizer mehr. Die Geräusche, die aus ihrem Mund kommen, hat man so noch nie gehört. Zu dritt schaffen sie etwas, das in etwa so klingt, wie wenn man einer Katze LSD verabreichen und anschließend in ein Klangstudio einsperren würde. Es ist jenseits des Konventionellen, fernab von Musik.
Das letzte Werk des Abends: Thomas Ankersmit mit seinem Solo für Serge Modulasynthesizer. Ankersmit beginnt seine Performance mit der Warnung an das Publikum, dass dieses 40-minütige Stück sehr laut werden könne, weshalb man sich je nach Belieben die Ohren mit den Fingern zuhalten solle. Alles beginnt ruhig, basslastig und nach dem vorherigen Auftritt allemal angenehmer für das Gehör. Das Stück baut sich über ca. 30 Minuten stetig auf, beginnt im Bassbereich und arbeitet sich langsam in den Höhenbereich – dort, wo das menschliche Hörorgan am empfindlichsten ist – hinauf. Ankersmit kommt nach einer halben Stunden an den Punkt an, wo reine Sinustöne im Bereich der 3 KHz aufwärts mit einem Schalldruckpegel durch den Raum fegen, der tatsächlich an die physische und gesundheitliche Grenze geht. Wenn man sich im Publikum umschaut, sieht man nicht eine einzige Person im Raum, die nicht die Finger in den Ohren stecken hat, um sich zu schützen – außer Thomas Ankersmit. Zu diesem Zeitpunkt hört man im Publikum eine Dame „Aufhören!!!” schreien. Sie steht auf und verlässt den Raum. Er hatte gewarnt. Und er macht weiter, ist völlig absorbiert in seinem eigenen Tunnel. Ob Ankersmit ein fantastischer Künstler oder ein Psychopath ist, soll jeder für sich selbst entscheiden. Er hat Potenzial zu beidem.
KONTAKTE
Wie der Titel der Biennale schon sagt, kommt man hier mit völlig neuen, nie zuvor gehörten Klangwelten in Kontakt. Man berührt sie, stößt sie mal ab, lässt sich andere Male ganz darauf ein. Mit diesem fünftätigen Event hat man es geschafft, dem einen Rahmen zu geben, das in keinen Rahmen passt. Als Besucher muss man sich für einen zukünftigen Besuch dessen bewusst sein, dass hier Abstraktion kein Nebenprodukt, sondern der Kern des Ganzen ist. Hier wird man als Zuhörer an geschmackliche Grenzen stoßen, was jedoch durchaus positiv ist, da man erst so wirklich merkt, was es bedeutet und wie es sich anfühlt radikal offen zu sein.
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