Wien um 1900 – eine glanzvolle Metropole, aus der Namen wie Otto Wagner, Kaiser Franz Joseph, Hugo von Hofmannsthal und Arnold Schönberg leuchten. Die soziale Unterseite gehört dazu: Armut, Prostitution, Verbrechen. In seiner Rezension der neu herausgegebenen Texten des Reporters Max Winter stellt Stephan Reimertz diese in den Kontext der Metropole, in der Adolf Hitler und Josefine Mutzenbacher ihr Unwesen trieben. Eine andere deutsche Großstadt sollte man dabei nicht aus den Augen verlieren.
Am 13. März 2020 rezensierte Barbara Hoppe an dieser Stelle das Buch Unter den Elenden und Armen Berlins des Journalisten Hans Richard Fischer aus dem späten neunzehnten Jahrhundert. Das Pendant zu diesen auch literarisch interessanten Texten stellen die bereits in fünfter Auflage neuerschienenen Expeditionen ins dunkelste Wien von Max Winter dar, welche der Picus Verlag unwidersprochen als »Meisterwerke der Sozialreportage« bezeichnet. Es überraschte nicht, wenn der Wiener Max Winter die Reportagen des Berliners gelesen hätte. Günter Wallraffs beide Großväter im Geiste waren Pioniere der Sozialreportage und liebten es nicht weniger als ihr ebenso sozial- wie hyperaktivistischer Enkel, in Verkleidung Polizeiwachen, Spitäler und Notunterkünfte wie z. B. Obdachlosenasyle heimzusuchen. Für eine Nacht des Jahres 1903 etwa schleicht sich Max Winter in jenes Männerheim in der Brigittenau ein, in dem später Adolf Hitler unterschlüpfte. Mit der Eiskammer von Wien schreibt er 1908 ein Stück klassischer Arbeitsliteratur, durchaus neben Wallraffs Protokolle der industriellen Plackerei zu halten. Der Wiener Winter wie der Berliner Fischer versuchen in ihren Texten den Voyeurismus der Leserschaft zu bedienen, diesen zugleich aber für das Mitleiden mit den Zukurzgekommenen einzuspannen und damit in der Konsequenz zu politischem Handeln aufzustacheln. Die beiden Reporter sind dabei im Temperament so unterschiedlich wie ihre Städte: Wiegt dort das existentielle Pathos vor, kann sich hier das komödiantische Naturell ausspielen.
Dokument oder Literatur?
Es ist nicht ohne Reiz, die unter dem Titel Expeditionen ins dunkelste Wien neu herausgegebene Auswahl der Texte von Max Winter parallel zur guten alten Josefine Mutzenbacher, aber auch zu den Erinnerungen des Musikanten August Kubizek zu studieren, wobei man alle drei Bücher gegen den Strich lesen sollte. Max Winter hat in der gerade entstehenden modernen Reportage ein Problem, das zugleich eine Chance darstellt: Es ist in seinen Tagen noch gar nicht klar, wie die Form der Sozialreportage literarisch überhaupt begründet werden könne. Das Verhältnis von Erlebtem und Darstellung und ihren Mitteln ist längst nicht ausgelotet. Die unbefangene, frische Schreibweise des Autors macht deutlich, wie ungern er sich in theoretischen Reflexionen verheddert. Während Kubizek einen salbungsvollen Text über die Bohèmejahre des künftigen »Führers« pinselt, der zwischen Heiligenlegende und Henri Murger schwankt, und der Autor der Josefine den Voyeurismus reizt, will Max Winter mit dem neuen sozialen Bezirk, den er der beschreibenden Feder erschließt, auch eine neue Gattung aus der Kuh ziehen. Seine Begabung zum Dramaturgischen und der dem Wienerischen eigene Zwang zur Komik entscheiden den Kampf zwischen Dokument und Literatur freilich zugunsten der letzteren.
Der Arno Schmidt der Leopoldstadt
Der Sieg des Literarischen zeichnet sich schon ab, wenn Max Winter das Wienerische, das seine Figuren sprechen, in einer Art Umschrift wiedergibt, welche natürlich nur eine Literarisierung sein kann. Winter schreibt, wenn man so will, med ana schwoazzn dintn und liegt mit seinem schriftwienerischen Kunstidiom auf halbem Wege zwischen Johann Nestroy und H. C. Artmann. Das ganze ist von durchschüttelndem Unterhaltungswert. Der soziologisch-literarische Feldforscher Winter beschränkt sich mitnichten auf die Verdammten, er gastiert im Champagnerlokal, hospitiert am Burgtheater und an der Oper, ja er reist nach Triest und Whitechapel, in den »Stammbezirk der Londoner Hooligans«. Der Reporter reißt den Tunnelblick auf zum Welttheater. Dabei flirtet er gern mit dem pädagogischen Eros. Er möchte seine Leser etwas lehren. In einem appetitverderbenden Bericht über die Karpfenverarbeitung zeigt Winter sich als einer der ersten Ernährungskritiker. Am Arlberg nimmt er den frühen Tourismus aufs Korn und stellt schon einmal ein humoristisches Gegenstück zu Ernest Hemingways Shortstory über dessen Ferien im Montafon bereit. So zieht er wie einen Joker gern frischgebackene Kurzgeschichten aus dem Ärmel, alle zusammen schichten sich zu einer Epopöe der Wiener Vorstadt, aber auch von Kärntnerstraße und Umgebung auf.
Der letzte Seufzer des österreichischen Sozialismus
Dieses sprachlich, intellektuell und historisch wertvolle Büchl ist lesenswert, zudem eine wirtschafts- und sozialgeschichtliche Quelle, denn der Autor rechnet uns alles auf Krone und Heller vor; zuvörderst die mickrigen Löhne der Verachteten. Den »guten proletarischen Geist« (Winter) findet man heute in Wien nicht mehr, zugleich ist die Stadt jenseits des »Gürtels« überraschend proletarisch; allerdings findet sich da ein Lumpenproletariat, welches sogar die einschlägigen Stadtteile von Berlin als Nobelkurorte erscheinen lässt. Politische Impulse gehen von dort nicht mehr aus. Wenn Egon Erwin Kisch der rasende Reporter ist, so ist Max Winter der flanierende. Bei Gelegenheit des Triester Fischmarkts, wo er mit gewieftem Händlerblick geradezu Emile Zola zu imponieren sucht, hat der Leser das Gefühl, den Finger über ein Panorama der alten Welt gleiten zu lassen. Drehbuchautoren auf der Suche nach dem nächsten ORF-Seriengift sollten die Brillengläser putzen. Max Winters Reportagen sind nicht nur literarisch, sondern auch sozialgeschichtlich ein Volltreffer. Beobachtungsgabe, Einfühlung, Mitgefühl, Gemüt, sprachliche Präzision, Direktheit und Ausdruckskraft, das sind seine Stärken als Autor.
Oper aus der Perspektive von Bühnenarbeitern und Statisten
Max Winter, so erfahren wir im Vorwort des Büchls, wurde 1870 in Ungarn geboren und kam schon als Dreijähriger mit seinen Eltern, einem Bahnbeamten und einer Modistin, nach Wien, wo er später sein Studium abbrach, um sich dem Journalismus zu widmen. In der Folge zeigte er enorme Energie im Grenzgebiet von Journalistik, Sozialpolitik und Literatur. Leser von Karl Kraus, besonders von Schriften wie Sittlichkeit und Kriminalität, finden bei Winter erstaunliches Anschauungsmaterial aus sozialen Untiefen, wenn auch auf weit anspruchslosere Art dargeboten als in der ciceronianischen Gloriole der Fackel. Wie Kraus schont auch Max Winter den ruhmreichen Kulturbetrieb seiner Zeit nicht, wenn er sich als Kulissenschieber im Burgtheater der Ära Paul Schlenther oder als Statist in der Oper der Ära Gustav Mahler verdingt und uns in unseren bequemen Parkettsitzen die Froschperspektive des Bühnenproletariats entgegenhält: Theater von unten bzw. von hinten. Winters Opernepos nennt sich Wirkliches aus der Welt des Scheins und wäre es wert, von heutigen Musikfreunden wieder gelesen zu werden. In der Hofoper macht er beim Lohengrin mit; Otto Schenks Parodie der Lohengrin-Statisten wirkt wie eine Verfilmung von Max Winters Bericht aus dem Jahre 1902, der sich zugleich wie eine Vorstudie zur Lohengrin-Parodie in dem zwölf Jahre später erschienenen Roman Der Untertan von Heinrich Mann liest. Winters tragische Humoreske ersetzt eine Aufführung.
Unverändert bis heute ist die Lage am Bühnentürl nach der Aufführung, dort »warten Enthusiasten, vorwiegend Mädchen, auf die Großen im Reiche der Kunst«. Man horcht auf, wenn Winter verrät, wie er in der Hofoper als Statist bei einer Aufführung des Rienzi mitwirkte. Ob es jene war, von der Stehplatzhabitué und Radikalbohémien Adolf später sagte: »In jener Stunde begann es«?
Sein Wort sprach für Freiheit und Recht.
Seine Feder diente den Verkannten und Enterbten.
Sein Herz aber schlug für die Kinder.
(Grabspruch von Max Winter auf dem Matzleinsdorfer Friedhof in Wien)
Am Ende der kleinen Auswahl führt uns Max Winter in eine Romanfabrik. Schreiber bei Harry Sheff – Ein Blick in die Kolportageromanfabrik. – !!!Kein Roman!!! Der Autor kann seine satirische Seite ausspielen; er schreibt den ganzen Artikel im Stil eines Schundromans.
Leider hat der Verlag des vorliegenden Büchls offensichtlich die Orthographie verändert und den Leser damit nicht nur des Duftes jener Zeit beraubt, sondern auch des feineren Sinnes. Was sonst noch alles verändert wurde, ahnt der Leser nicht, denn die orthographische Veränderungen wurden nicht in einer editorischen Notiz bekannt. »An den Texten wurde nichts verändert«, schreibt Klaus Harpprecht, der Herausgeber dieser Auswahl von Schriften Friedrich Sieburgs. »Lediglich einige Übergänge verlangten stilistische Anpassungen.« So wissen wir leider nie, ob wir ein Wort von Sieburg lesen oder eine »stilistische Anpassung« von Harpprecht in diesen sonst so lesenswerten Expeditionen ins dunkelste Wien.
Max Winter
Expeditionen ins dunkelste Wien: Meisterwerke der Sozialreportage
Picus Verlag, Wien 2020
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