Simone Dinnerstein spielt Musik von Philip Glass und Franz Schubert. Rezension von Ingobert Waltenberger.
In New York herrschte Corona-bedingt lange Zeit strenge Isolation. Betuchtere Leute verließen die Metropole in Richtung Long Island oder Florida und zogen sich so ins Private zurück. Im Juni folgten Ausgangssperren nach Ausschreitungen infolge der Tötung von George Floyd. Es sollen die ersten seit 1943 gewesen sein. Kultur und Tourismus liegen nach wie vor komplett lahm, die Arbeitslosenquote liegt bei 18,3%. Die FAZ titelte Anfang August über den Zustand der an Widerstandskraft reichen Metropole nicht unpassend: „Zwischen Utopie und Apokalypse.“
Für manche Künstler mutieren in so einer Lage auf einmal die eigenen vier Wände vom Erholungs- und Lebensraum zum musikalischen Experimentierfeld, zum digitalen Konzertsaal, zum Aufnahmestudio. Die vorliegende Aufnahme der amerikanischen Pianistin und Serkin-Schülerin Simone Dinnerstein entstand am 22. und 23. Juni 2020 in ihrem Zuhause in Brooklyn.
Simone Dinnerstein will im neuen Album mit dem Zeitempfinden in der Musik spielen, die stillen Oasen in musikalischen Verläufen hegen und pflegen. Dinnerstein hat sich die Etüden Nr. 16, 6 und 2 von Philip Glass sowie die Klaviersonate in B-Dur von Franz Schubert als Pfeiler des Programms gewählt. „Beide erzeugen das Gefühl einer einsamen Reise, eines Gefühls der Zeit, die in Wiederholungen gefangen ist, während die Musik versucht, sich selbst zu einem Abschluss zu bringen,“ räsoniert Dinnerstein über die Parallelen der Musik von Glass und Schubert. Dinnerstein, die schon Klavierkonzerte von Bach und Glass erfolgreich kombiniert hat, ist mit ihrer Konzentration auf das Phänomen der Temporückungen zwar „old fashioned“, agiert dafür aber umso musikantischer aus dem Bauch heraus: Musik direkt an den Spinalnerven der Partituren angesetzt.
Mit der CD sendet die in Brooklyn beheimatete Pianistin ein in phosphoreszierenden Farben aufpuffendes Signal an künstlerischer Kraft, nachschaffendem Ausdruckswillen – exzessiv emotional und dennoch unglaublich intim zugleich. Noch nie habe ich die harmonischen Modulationen sanft repetitive Musik von Philip Glass so expressiv „romantisch“, so eigensinnig individuell herausfordernd, einem leidenschaftlichen Manifest gleich, interpretiert gehört. Dabei kann bei Dinnerstein sogar von einer authentischen Hörweise auf Glass‘ gar nicht so ‚minimal music‘ ausgegangen werden, ist sie doch dem Komponisten schon lange künstlerisch eng verbunden. So hat Glass u.a. sein drittes Klavierkonzert für Dinnerstein geschrieben. Wie Dinnerstein die Spannungsbögen aufbaut, die Tempi arrangiert, ein Gefühl der Dringlichkeit, der existenziellen Tiefe vermittelt, geht direkt unter die Haut. Das gilt besonders für Schuberts letzte Sonate in B-Moll, seinem schwermütigem Schwanengesang und Angelpunkt nachthimmlischer Visionen, seiner letzten stimmungsschwankenden Fahrt ins Unbekannte.
Hinweis: Jüngst hat Dinnerstein auch ein eigenes Streicherensemble mit dem Namen „Baroklyn“ gegründet, das sie vom Cembalo aus leitet.
Simone Dinnerstein
A charakter of quiet
Werke von Philip Glass und Franz Schubert
Orange Mou 2020
CD bei amazon kaufen
Bei Verwendung des Textes bitte Quelle angeben bzw. verlinken.