Magdalena Kožená und Sir Simon Rattle sind miteinander und mit der Musik verheiratet. Ein seltsames Paar hingegen bildeten die beiden Werke, die das Musikantenehepaar mit der Staatskapelle soeben in Berlin aufführten: Kurt Weills Sieben Todsünden und Anton Bruckners 4. Symphonie in Es-Dur. Wie passen die zwei Musikmonster zusammen? Von Stephan Reimertz.
»Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen«, hat bekanntlich Jean Jaurès geschrieben. Am vergangenen Dienstag behielt der französische Sozialist wieder einmal recht, zumindest was den zweiten Teil seiner Aussage angeht. Am S-Bahnhof Hackescher Markt in Berlin angekommen, wurde ich von einem veritablen Wolkenbruch empfangen. Es regnet nur, wenn ich einen hellen Anzug mit empfindlichen Stoff trage, dann aber regnet es immer. Meines Urururururururgroßvaters eingedenk, der ohne mit der Wimper zu zucken in strömendem Regen von Moskau nach Tula geritten sein soll, ließ ich mich vollregnen ohne eine Miene zu verziehen und rief vier Jugendlichen, die sich in palästinensische Flaggen eingehüllt hatten, ein fröhliches: »Shalom!« entgegen. Als ich einen guten Kilometer bis zur Deutschen Staatsoper zurückgelegt hatte, war ich allerdings bis auf die Knochen durchnässt. Aber mitnichten kam ich nun als Schäfchen ins Trockene, denn der Concièrge der Staatsoper wies mir die Tür und schickte mich zurück in den strömenden Regen. Das Konzert finde hier gar nicht statt, sondern in der Philharmonie.
Es regnet Bindfäden
Auf dem Spielplan der Deutschen Oper im Internet hatte ich die Angabe »Philharmonie Berlin« für den Namen eines Orchesters gehalten, etwa der Berliner Philharmoniker. Es stand auch nicht dabei, dass es sich um einen Aufführungsort handele. Berliner werden wissen, was gemeint ist, aber könnte man den Spielplan nicht so formulieren, dass auch Berlinbesucher ihn verstehen? Ich befand mich also wieder zwischen den ebenso ägyptisch wie unmotiviert herumstehenden Monumentalbauten unter den Linden, zwischen denen auch bei gutem Wetter kein urbanes Leben möglich ist, keine Straßencafés einladen. Die Strecke vom Lego-Nachbau des Stadtschlosses bis zum Brandenburger Tor eignet sich bestenfalls als Aufmarschgebiet. Kein Taxi hielt an, keiner wollte den tropfnassen Frosch mitnehmen. Ich ging also die ganze Strecke durch den Regen zur S-Bahn wieder zurück und kam nach einer kurzen S-Bahnfahrt mit einmal Umsteigen an einer unmotivierten Ansammlung von nicht zusammenpassenden Großbauten an, Potsdamer Platz genannt. Hier tröpfelte es zum Glück nur noch. Ich ging zu der danebenliegenden – von kleinkarierten Zweckbauten umgebenen – Baustelle, Kulturforum genannt, und kam auf den letzten Drücker in der von außen wie eine von einer Bombe getroffenen Sporthalle, von innen wie ein Schwimmbad der Sechziger Jahre wirkenden Philharmonie an. Immer noch wie ein begossener Pudel, nahm ich meinen Platz im ersten Rang eines Saales ein, der in ferner Vergangenheit sehr zukunftsträchtig gewirkt haben mag.
Musik geht in Filmmusik verloren
Tatsächlich ist die Akustik hier hell und leuchtend, zumindest, was den Orchesterklang angeht. Wenn man ihn mit dem Ton im großen Musikvereinsaal in Wien vergleicht, ist er freilich eher blechern als golden. Das zeigte sich bereits in den ersten Takten der Sieben Todsünden von Kurt Weil, der man freilich als achte die Todsünde der Überinstrumentierung hinzugefügt hatte. Die kleine Combo, mit der Weill die Dreigroschenoper begleitet, hatte weit größere Wirkung erzielt als das volle Opernorchester von Mahagonny. Nun waren wir einen Schritt weiter, und der Komponist bereits mit einem Bein in Hollywood, als in Paris 1933 das seltsame Ballettoratorium uraufgeführt wurde. Der Riesenapparat plus eine Frauen- und vier Männerstimmen muss das von Diaghilew organisierte Ballett erschlagen haben. Ohne Missbrauch des Stücks zu Ballettzwecken hatten wir es nun in Berlin mit einer assoziativen Potpourrisinfonietta zu tun, aus der eine Parodie des Rosenkavalierwalzers und Anklänge an die Seeräuberjenny erinnerungswütig hervorstachen.
Besser mit Kammerorchester
Magdalena Kožená hatte keine Chance, sich gegen das Riesenorchester durchzusetzen. Der Saal ist für große Besetzung konzipiert, weniger für Singstimme. Auch bei den vier Herren im Frack –Comedian Harmonists von heute – war nichts zu verstehen. Zum Glück kenne ich meinen Brecht – dank sozialistischer Indoktrination westdeutscher Schulen, Deutschunterricht genannt – in- und auswendig, so war mir die Geschichte von den zwei Annas (oder der einen Anna, schizophren), die sich im Mahagonnystil durch den amerikanischen Kapitalismus und damit durch die sieben Todsünden schlägt, noch einigermaßen geläufig. Mit einer auf Kammerorchester reduzierten Fassung in einem Theatersaal wäre das Ganze aufgegangen. Umso mehr bestach Frau Koženás Kleid: Es wirkte wie eine Gemeinschaftsarbeit von Piet Mondrian (Farben) und Hans Bellmer (Schnitt).
Prunkvolle Symphonik
Das unausgesprochene Motto des Abends in der Philharmonie lautete: Agree to disagree. Das Interessante der Veranstaltung bestand darin, dass zwei denkbar extrem voneinander entfernt liegende Pole deutscher Musik markiert wurden, die dann doch Gemeinsamkeiten zeigten. Anton Bruckners Symphonie No. 4 in Es-Dur ist um einiges vom gewohnten Aufbau rund um eine Sonatenhauptsatzform entfernt. Genau das hat die Hörer zu seiner Zeit stark irritiert. Man könnte die einfach aufgebaute Komposition Bruckners Pastorale nennen, wenn sie von wenig Einsichtsvollen nicht schon mit dem Epitheton »Die Romantische« versehen worden wäre. Ebenso wenig hilfreich sind des Komponisten literarische Assoziationen, die er jedem Satz voranstellt. Immerhin prunkt er im Kopfsatz und im Scherzo mit eingängigen pastoralen bzw. jagdlichen Themen, die dann freilich in viele Mini-Durchführungen aufgelöst werden. In Berlin waren die Bläser exzellent disponiert und stellten jene Präzision und Atmosphäre bereit, die den vagen Renaissancebildern Form verliehen, von denen der Komponist jeweils den Ausgang seiner Phantasie nimmt.
Zerschnibbeltes Themenmaterial
So erhält das Werk einen Potpourri- oder Collagecharakter, der jenem von Weills Todsünden gar nicht so unähnlich scheint. Die zwei Mal verdoppelte Dynamik eines pulsierenden Motivs als Einleitung zu einer Wiederholung des Themas nutzt Bruckner oft als künstliche Spannungsverstärkung, kommt dann freilich am Ende der Themenwiederholung regelmäßig in eine Krise und bricht ab. Aus solchem immer wieder neuem Aufbäumen resultiert der oft redundante Charakter der Komposition. Berührend allerdings ist die Verhaltenheit des Adagio mit vielen gesanglichen Schönheiten am Rande und besonders in den Trios. Im Finale wiederum steigert sich die bei Bruckner stets fühlbare Unruhe in eine Ahnung der apokalyptischen Visionen seiner 8. und 9. Symphonie.
Wenn die kompositorischen Knackpunkte hier überhaupt so eindeutig bezeichnet werden können, liegt das vor allem an der klaren Linie des Kapellmeisters. Sir Simon und die Staatskapelle Berlin brachten die beiden Werke in großem Schwung dem vollbesetzten Hause dar, der bei alldem nie den Detailsinn für die eine oder andere Schönheit, die eine oder andere Komponistenmogelei vermissen ließ. Von Berlin hat man das Bild einer bruchhaften Stadt mit lauter versifften Leuten. Umso mehr erfreut es, eine junge Generation attraktiver und höflicher Opern- und Konzertbesucher zu erleben, auch wenn die architektonischen Vorbehalte nicht gänzlich aus der Luft gegriffen sind. Völliges Chaos allerdings herrschte nach dem Konzert vor dem Eingang. Aus allen Richtungen strömten Taxis auf den kleinen Platz, die einem von frechen alten Leuten weggeschnappt wurden. Zudem schoben sich auch noch Busse ohne klare Abfahrtszeiten durch die Menge.
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Magdalena & Simon: The musical dream couple as guests in Berlin
Magdalena Kožená and Sir Simon Rattle, a musician couple, recently performed two works with the Staatskapelle Berlin: Kurt Weill’s „Seven Deadly Sins“ and Anton Bruckner’s Symphony No. 4 in E-flat major. This unusual combination raised the question of how these two musical pieces fit together.
The evening began with a mishap for the author Stephan Reimertz, who, due to a misunderstanding, ran to the wrong opera house in pouring rain and arrived soaked. The actual performance took place at the Philharmonie, a building that looks like a sports hall from the outside and like a 1960s swimming pool from the inside.
The acoustics of the Philharmonie, bright and radiant, were evident in the first bars of Weill’s „Seven Deadly Sins.“ The work, originally intended for a small combo, was performed in Berlin with a large orchestra and five voices, which overwhelmed the piece. Magdalena Kožená struggled to be heard over the orchestra. A chamber orchestra in a theater would have showcased the work better.
Bruckner’s Symphony No. 4, known as „The Romantic,“ was splendidly presented. The composition, which deviates from the traditional sonata form, features pastoral and hunting themes, particularly highlighted by the excellent wind players in Berlin. The symphony acquired a collage-like character, similar to Weill’s work, which unexpectedly harmonized the contrasts between the two pieces.
Sir Simon Rattle and the Staatskapelle Berlin executed the performance with flair, highlighting both the detailed beauty and the compositional nuances. The Philharmonie was packed with a young, polite audience who enjoyed the evening despite the architectural shortcomings of the surroundings. After the concert, there was chaotic congestion outside the Philharmonie with taxis and buses, which slightly marred the evening.
Overall, the evening demonstrated that despite the contrasts in the music, Weill and Bruckner share commonalities that can be brought to light through a skillful performance.
Da gefällt sich jemand sehr in seiner Pose des globetrotten Polemikers.
Was steht denn in Paris als Veranstaltungsort im Programm, wenn eine Veranstaltung in der dortigen Philharmonie stattfindet?
Die Rattles als „Musikantenehepaar“ zu titulieren, ist ungewöhnlich, die Gauklerattitüde würde ihnen vermutlich ein schelmisches Zwinkern abringen.
Nur die Philharmonie als “ von außen wie eine von einer Bombe getroffene(n) Sporthalle, von innen wie ein Schwimmbad der Sechziger Jahre wirkenden(d)“ zu bezeichnen, ist vollkommen unangebracht, enbehrt jeder Wahrheit und ist nicht einmal humorig oder gar trefflich beeobachtet. Es ist schlichtweg unpassend. Davon abgesehen, dass Scharouns Bau immerhin gut genug war, bis auf den heutigen Tag in der ganzen Welt kopiert zu werden, staune ich (im Verbund mit vielen anderen) immer wieder über die ausgesprochen gelungene Architektur, die als Zeugnis ihrer Zeit bis heute sowohl innen als auch außen nichts von ihrer Faszination und hohen Zweckhaftgkeit verloren hat. Hier fällt die Kritik doch sehr auf den Urheber zurück und man ist geneigt nachzuschauen, welch enorme Eigenleistung mit einhergehender überfeinerter Wahrnehmung ihn zu einer solchen Aussage befähigt oder gar berechtigt.