Von Birgit Koß.
Seit fast dreißig Jahren veröffentlicht die französische Autorin Marie Darrieussecq Romane, Theaterstücke, Essays. Gleich ihr erster Roman mit dem Titel „Schweinerei“ wurde ein Bestseller. Davor hatte sie bereits fünf Romane geschrieben, die sie nicht für veröffentlichungswürdig hielt. Genausolang treibt sie schon das Thema ihres neuesten auf Deutsch erschienenen Romans „Das Meer von unten“ um, erzählt sie auf ihrer Lesereise. Doch was ist das Thema? Als Motto steht zu Beginn die Zeile von David Bowie „we can be heroes, just for one day…“ Aber ist Rose, die Protagonistin, eine Heldin? Das verneint die Autorin – so habe sie ihre Figur nicht angelegt.
Doch der Reihe nach: Die Psychologin Rose, Anfang 40, aus Paris, mit ihren zwei halbwüchsigen Kindern Emma und Gabriel, hat von ihrer Mutter eine Kreuzfahrt auf dem Mittelmeer über Weihnachten geschenkt bekommen, damit sie einmal so richtig schön ausspannen und zu sich finden kann – zwischen Anspannung auf der Arbeit, mit ihren Kindern, einer ermüdenden Ehe mit dem gestressten, alkoholabhängigen Immobilienmakler Christian und dem geplanten Umzug von Paris in die südfranzösische Provinz. Das Meer ist blau, der Champagner fließt, Rom, Athen stehen auf dem Programm und dann gibt es plötzlich in der Nacht seltsame Geräusche. Rose fasst sich ein Herz und tappt aus der Kabine. Seltsame Dinge spielen sich im unteren Schiffsbereich ab. Ein „Seelenfänger“, vollgeladen oder überladen mit Flüchtlingen, ist gekentert – die Überlebenden und Toten werden an Bord geholt. Rose muss über eine Leiche steigen und entdeckt unter all den Schiffbrüchigen einen Teenager – genauso alt wie ihr Sohn, der sofort ihr Herz berührt. Also kehrt sie in ihre Kabine zurück und sammelt ohne zu überlegen ein paar Kleidungsstücke ihres Sohnes, sein Handy und eine Thermoskanne mit Kaffee zusammen und bringt sie unter Deck. Sie erfährt noch, dass der Junge Younès heißt, dann kehrt sie in ihre Luxuskabine zurück.
Gabriel sucht empört sein Handy und zeigt Rose die Ortungsfunktion. Somit wird sie in Zukunft wissen, wo sich Younès aufhält. Gabriels Interesse an seinem Handy beendet Rose durch den Kauf eines neuen iPhones. Die kleine Emma, die in ihrer Schule gemobbt wird, hat auch hier Schwierigkeiten mit den anderen Kindern im Club und lässt sich nur widerwillig mit Eis bestechen, der Ehemann Christian ruft dauernd an und bittet sie, schnell zurückzukommen. Dazu die dauernden Gedanken an Younès – wo kommt er her, wo wird er hingebracht? Die Auszeit gelingt nicht.
Auf ihre unvergleichliche Art, Dinge zu verdichten und mit viel Humor ganz genau auf den Punkt zu bringen, beschreibt Marie Darrieussecq die abgehobene Welt der Kreuzfahrten – sie hat selbst einige mit ihren Mutter gemacht – und schaut hinter die Kulissen, sieht das ärmliche Leben des Personals und stellt dies alles der Situation der Geflüchteten gegenüber. Die Autorin zeichnet ein genaues psychologisches Bild von Rose, einer gutmütigen, aber auch ängstlichen Frau Anfang 40, die sich so vielen Problemen gegenüber sieht, aber gleichzeitig das Leben der gebildeten, vermögenden Mittelschicht Frankreichs repräsentiert. Zu all ihren Fragen – soll sie ihren Ehemann verlassen? Stellt die Rückkehr in ihren Heimatort in der südfranzösischen Provinz einen möglichen Neuanfang da? Was kann sie für ihre kleine Tochter, die unter extremen Hautauschlägen leidet und immer wieder bei Gleichaltrigen aneckt, tun? – kommt nun auch noch die Frage nach dem ob und was sie für Younès tun kann. Inzwischen weiß Rose, dass er aus dem Niger stammt. Er ruft immer mal wieder an – sie nimmt diese Anrufe nicht an – und teilt ihr schließlich mit, dass er nach Paris kommt. Rose ist pünktlich am Gare de Lyon und entdeckt ihn auch – zeigt sich dann aber nicht.
„Man müsste in einem beherzten Land leben, und auf einem beherzten Planeten, wo alle Bewohner beherzt verteilt werden. Das liegt nicht in ihrer Macht. Sie hat nicht einmal mit ihrem Mann darüber gesprochen“ – Rose ist keine Heldin. Und doch – als Younès sich später aus dem Flüchtlingslager in Calais meldet, nach mehreren Unfällen schwer verletzt, setzt sie sich ich ihr Auto und fährt zu ihm.
Die Autorin erzählt, dass sie Rose und ihre Familie recht schnell entwickeln konnte, aber große Schwierigkeiten mit der Figur von Younès hatte. Seinen Namen hat sie von Jonas abgeleitet, der vom Wal verschluckt wurde und dessen Geschichte sowohl im Alten wie auch Neuen Testament und im Koran vorkommt. In die Situation von Younès sind viele Erfahrungen eingeflossen, die sie persönlich im Laufe der Zeit mit jungen Geflüchteten gesammelt hat. 2018 hat sie den Text zu einer Fernsehdokumentation über den Dschungel von Calais geschrieben. Während es bei einer Reportage um die wahrheitsgemäße Wiedergabe der Fakten geht, sieht Marie Darrieussecq die Fiktion auch als wahrhaftig an, aber auch als Anregung, über das eigene Leben nachzudenken. Das ist ihr mit der Figur von Rose außerordentlich gut gelungen. Während Rose zu Beginn der Geschichte durch Neugierde und Langeweile angetrieben wird zu handeln und weder ein „Gutmensch“ noch eine Heldin ist, tritt dann bei aller Zerrissenheit doch ihr Gewissen zutage, zunächst noch gebremst von Ängsten und Unsicherheiten. Rose ist kein politischer Mensch sondern eher von einer Art Unschuld getrieben, darin ähnelt sie Younès . Somit kann man sich beim Lesen immer wieder die Frage stellen – was hätte ich in dieser Situation getan?
In diesem mit 186 Seiten recht kurzen Roman gelingt es der Autorin, viele aktuelle Themen der Zeit anzuschneiden –von der Flüchtlingspolitik, über das Medienverhalten der Kinder, bis hin zur Klimakrise. In ihrer klugen Reflexion zu diesen Fragen umgeht die Autorin geschickt die Falle, in den Kitsch abzugleiten, wenn sie schließlich Roses Stärke zum Tragen kommen lässt – ihr Mitgefühl und die Fähigkeit, ihre eigene Kraft auf andere Menschen zu übertragen.
Durch die poetische, bildreiche Sprache ist der Text so dicht gewebt, dass es sich lohnt, ihn nicht zu überfliegen, um die Lösung am Ende schnell zu erfassen, sondern die einzelnen Sätze intensiv auf sich wirken zu lassen. Somit wird das Lesen zu einem Hochgenuss, für den in der deutschen Übertragung Patricia Klobusiczky ein extra großes Lob gebührt.
Am Dienstag, dem 18. Juni 2024, ist die Autorin im Institut français in Bonn zu Gast. Im Gespräch mit ihrer Übersetzerin Patricia Klobusiczky wird sie auch aus dem Buch lesen. Die Veranstaltung findet in deutscher und französischer Sprache statt.
Marie Darrieussecq
Das Meer von unten
aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky
Secession Verlag, Berlin 2024
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Marie Darrieussecq „Das Meer von unten“
Marie Darrieussecq has been publishing novels, plays, and essays for almost thirty years. Her first novel, „Pig Tales,“ immediately became a bestseller. Her latest novel, „The Sea Below,“ has occupied her thoughts for just as long.
The novel begins with a line from David Bowie: „we can be heroes, just for one day…“ The protagonist, Rose, a psychologist in her early 40s from Paris, receives a Mediterranean cruise from her mother. She is meant to relax from the stresses of her life, including her demanding job, raising her teenage children Emma and Gabriel, and her troubled marriage to the alcoholic Christian.
During the cruise, Rose hears strange noises at night and discovers that an overloaded „soul catcher“ carrying refugees has capsized. Survivors and bodies are brought on board. Rose helps a teenager named Junnès by giving him her son’s clothes and phone. Her children and husband react differently to the situation, and Rose cannot stop thinking about Junnès.
Darrieussecq humorously and precisely describes the insulated world of cruises, the life of the staff, and the situation of the refugees. She draws a detailed psychological portrait of Rose, who, despite many problems, represents the life of the French middle class. Rose is not a heroine but a kind-hearted, yet fearful woman who eventually discovers her conscience.
The novel touches on many current issues such as refugee politics, children’s media habits, and the climate crisis, without falling into sentimentality. Darrieussecq manages to use her poetic and vivid language to make readers reflect on their own lives. The German translation by Patricia Klobusiczky is particularly praised.