Von Stefan Pieper.
Das Moers Festival 2024 bot erneut Zuflucht vor dem Welt-Wahnsinn und erwies sich dabei als besonders avantgardelastig. Man muss für ein herausragendes Festival nicht möglichst viele prominente Bands aneinanderreihen. Die aktuelle Ausgabe des Moers-Festivals punktete vor allem mit überraschenden und energiegeladenen Kooperationen zwischen Musikerinnen und Musikern unterschiedlichster Herkunft und Szenen. Die Offenheit für Grenzüberschreitungen und spontane Begegnungen synchronisierte dabei die reiche Impro-Jazz-Historie mit einer ästhetisch hellwachen Gegenwart – und das schaffte auch bei der 53. Festivalausgabe eine Atmosphäre, die es in dieser Form wohl nur in Moers gibt. Das Moers-Programm im Jahr 2024 zeigte sich dabei selbstbewusst, um sich jeder Anbiederungen an ein Massenpublikum zu verweigern.
Klare Distanzierung vom ideologischen Schwarzweiß
Zu Beginn hatte es beim Moers-Festival Irritationen gegeben, als eine Künstlerin beim Auftaktkonzert „Free Palestine“-Rufe anstimmte und Teile des Publikums lautstark einstimmten. Um die immense Gefahr solcher Imageschädigungen zu bannen, bekundete Festivalleiter Tim Isfort eine klare Distanzierung des Festivals von einseitig-plakativen und aggressiven Bekundungen, wo es keine Alternative gebe, als das Leid der Menschen auf beiden Seiten anzuerkennen.
Hanns-Dieter Hüsch wäre in diesem Jahr 99 Jahre alt geworden, aber die Texte des gebürtigen Moersers könnten gerade erst den vielen menschlichen Befindlichkeiten von heute auf den Leib geschrieben sein. Deswegen war es eine großartige Idee, diesen, in Moers geborenen Autor und sein gewichtiges literarisches Erbe zum Narrativ und roten Faden im Programm zu wählen und gleich mehrere anspruchsvolle Produktionen daraus zu generieren – etwa das Projekt „Henn, Türk und Toxodon haben jetzt zugegeben“. Johann Henns tiefschürfende Lesung verlieh diesen Texten eine ganz neue Sprengkraft. Vor allem aber wurden die Worte des Moerser Autoren auf vielsagende, assoziative Umlaufbahnen geschickt durch eine fantastische Besetzung mit Markus Türk (Trompete) sowie Raissa Mehner (E-Gitarre), Salome Amend (Vibrafon) und Simon Camatta, die zusammen das Trio Toxodon bilden und denen zu Hüschs sarkastischer und empathischer Weisheit ausgiebig pulsierende Klangszenarien einfielen.
Diese besondere Bühne steht auf einem Schulhof, der so zum vibrierenden kreativen Labor geworden ist, so dass Tim Isfort manchmal schon eine zu starke Konkurrenz zu den anderen Spielorten des Festivals fürchtete. Andererseits belebt sich hier, ebenso wie bei den von Jan Klare mit Herzblut kuratierten Sessions das Kerngeschäft von Moers neu, wenn hier unablässig neue Musik entsteht.
Die Kreativität lebt auch in feindlicher Wirklichkeit weiter
Die englische Band „Skylla“ um die Südtiroler Bassistin Ruth Goller musste wortwörtlich improvisieren, als sie nach wildem Reisechaos auf ihrem Flug von London nach NRW erst kurz vorm Auftritt in Moers eintraf, aber dann doch auf Anhieb in ihre rätselhafte Poesie aus sphärischen Tonfolgen auf dem E-Bass und repetierten mehrstimmigen Vokalisen hineinfand. Seit Schlagzeuger Max Andrzejewski bei Syklla dabei ist, entwickelt sich das Format in neue Richtungen – man wünscht sich irgendwie, auch mal eine Duobesetzung zwischen Ruth Goller und Max Andrzejewski zu erleben.
Die Violinistin Julia Brüssel und die Cellistin Emily Wittbrodt verbanden sich jeweils mit zwei Musikern der Londoner „Café-OTO“-Szene, einem Ort der trotz feindlicher werdender Bedingungen für Kulturschaffende seit dem Brexit die improvisierte Musikkultur am Leben hält. Diese Begegnung sorgte gleich zu Beginn für energiegeladene Auftritte, bei denen fantasievolle Streicherklänge mit heftigem Klavierclustern von Alexander Hawkins und dem Bass von Neil Charles fusionierten. Von den beiden waren aber noch viele weitere überraschende Darbietungen zu erleben. Zum Beispiel auch eine spontane, sehr beseelt vorwärtstreibende Session zusammen mit dem Kontrabassisten Moritz Götzen. Spektakulär geriet eine andere Fusion zwischen einem hierzulande bestens etablierten Musiker und den eingeladenen Gästen aus Japan: Der Schlagzeuger Christian Lillinger synchronisierte seine zupackend komplexe Rhythmik mit der schroffen Saitenkunst der Kotospielerin Michiyo Yagi, nicht minder intensiv beackerte Takashi Yugawa seinen Bass dazu.
Zu einem echten Hochamt des unlimitierten Freejazz wurde der gefeierte Auftritt einer echten „All-Star-Besetzung“: Das Projekt „Brötzfrau“ mit Kaspar Brötzmann (E-Bass), Conny Bauer (Posaune), Bart Maris (Saxofon), Akayo Tutsen (Saxofon) und Alex Krugloff schöpfte aus einem kollektiv improvisierten Spiel maximal ergreifende Urkraft.
Spiellust ohne Grenzen
Die Spiellust der Band „Stolen Moments“ erwies sich auf der Open-Air-Bühne als die stärkere Kraft als der zu diesem Zeitpunkt einsetzende heftige Regen. Rian Trenor sorgte nachts mit seinem Afro-Techno für noch mehr Tanzwut am Rodelberg. Überhaupt zeigten die afrikanischen Beiträge, insbesondere aus Namibia, Senegal und Uganda, dass die Gegenwart im Jahr 2024 nichts mehr mit netten World-Music-Folklorismen am Hut hat, die charismatische Performance der senegalesisch-italienischen Band Ndox Electrique bot gar Heavy-Metal-Elemente auf, um alle Beteiligten zum Mittanzen auf der Bühne zu animieren. Zum Runterkommen überzeugten viele nächtliche Angebote – etwa eine ambient-artige Solo-Improvisation des Duisburger Gitarristen Thorsten Töpp.
Die große Ära des kollektiven Feierns im Freizeitpark ist Geschichte – es bleiben symbolträchtige Rituale, um die prägende, reiche Historie mit einer ästhetisch hellwachen Gegenwart zu synchronisieren. Andächtig wurde der Französin Cecile Lartigau, die mit ihrem Spiel auf dem elektromagnetischen Ondes Martenot (dem Lieblingsspielzeug von Olivier Messiaen) ein kleines Feuer nachts im Freizeitpark untermalte.
Die Überraschungen in Moers sind oft unvorhersehbar und stellen sich bevorzugt dann ein, wenn man sich fragt, was kann denn jetzt noch kommen? Zum Beispiel eine ungeahnte Klangerfahrung, als das Oktett von Erwan Keravec die pulsierenden Lyrismen der Minimal-Musik von Philip Glass auf Bagpipes intonierte. Überall auf der Welt sind Menschen mit Leidenschaft bei der Sache für ihre speziellen, fantasievollen, aber dann doch überraschend plausiblen Projekte. Moers macht sichtbar, was der Mainstream vorenthält und das ist immens viel.
Das eigentliche, würdige Finale dieser Moers-Ausgabe lieferte Arto Lindsay: Sanft säuselt seine Stimme, wenn er im Stil des Tropicalismo singt, zugleich kannte seine brachiale, selbst Hendrix überbietende E-Gitarrenbehandlung keine Gnade, um damit die Kunst des Widerspruchs in heutiger Zeit einmal mehr zu kultivieren.
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Moers Festival 2024 – Avant-garde cosmos against world madness
The Moers Festival 2024 once again provided a refuge from the madness of the world, distinguishing itself with a strong avant-garde focus. A standout festival doesn’t need many famous bands. This year’s edition of the Moers Festival excelled with surprising and energetic collaborations between musicians from diverse backgrounds and scenes. The openness to cross-boundary and spontaneous encounters synchronized the rich history of improv jazz with an aesthetically vibrant present, creating a unique atmosphere.
The 2024 Moers program confidently resisted pandering to a mass audience, offering plenty of alternatives. Initially, there were some disruptions when an artist called out „Free Palestine“ during the opening concert. Festival director Tim Isfort clearly distanced the festival from one-sided and aggressive statements, emphasizing the suffering on both sides.
Hanns-Dieter Hüsch would have turned 99 this year. His texts are perfectly suited to today’s sensibilities, making it a brilliant idea to weave this Moers-born author and his significant literary legacy into the program’s narrative. Johann Henn’s reading gave these texts new potency, accompanied by musicians like Markus Türk and Raija Mena, who enhanced Hüsch’s wisdom with pulsating soundscapes. This band itself emerged from a spontaneous session on the “Annex” stage, which became a creative laboratory.
The English band „Skylla,“ led by Ruth Goller, had to improvise after travel chaos caused them to arrive just before their performance, but they immediately settled into their ethereal poetry. Violinist Julia Brüssel and cellist Emily Wittbrodt played with musicians from London’s “Café-OTO” scene, resulting in dynamic performances. A spectacular fusion occurred between drummer Christian Lillinger and koto player Michiyo Yagi.
The „Brötzfrau“ project with Kaspar Brötzmann drew immense power from collective improvisation. “Stolen Moments” defied the rain on the open-air stage, while Rian Trenor’s Afro-techno incited nighttime dancing. African contributions showcased modern, energetic performances. Erwan Keravec’s octet played Philip Glass’s minimalist music on bagpipes.
Arto Lindsay provided a fitting finale: his gentle Tropicalismo vocals contrasted with his relentless, Hendrix-surpassing electric guitar treatment, celebrating the art of contradiction.