Wilhelm, der Fatalist – Von der kaiserlichen Familie, Plattenbauten, imaginierten Opas und ganz banalen Ehe- und Kindererziehungskrisen. Von Ingobert Waltenberger.
Willy, der jüngste Sohn des Karl Stephan von Habsburg-Lothringen und der Maria Theresia, Antoinette, Immakulata, Josepha, Ferdinanda, Leopoldina, Franziska, Carolina, Isabella, Januaria, Aloysia, Christine, Anna, Erzherzogin von Österreich und Prinzessin der Toskana, erblickte 1895 das Licht der Welt. Es war genau das Jahr, als Karl Stephan, Admiral der österreichischen Kriegsmarine, ein Anwesen im polnischen Städtchen Saybusch erbte, das sein Onkel Karl Ludwig fünfzig Jahre zuvor von einem verarmten polnischen Adeligen erworben hatte.
Das Leben auf diesem Schloss, die Kindheit des wuschigen Wilhelm, alles verlief in geordneten Bahnen streng nach höfischem Zeremoniell, das durch den exzentrischen Vater nach Belieben verschärft oder chaotisch durcheinander gewirbelt wurde. Im perlenden Fluss all der Unterrichtsstunden in fünf Sprachen, handwerklicher Fertigkeiten oder sportlicher Ertüchtigung gab es schon um 10 Uhr vormittags auch für die Kinder ein Glas Wein, um 12 Uhr nochmals. Dermaßen berauscht, erfanden Wilhelm und seine Lieblingsschwester Eleonora, wenn gerade nicht Spielzeug Zerlegen oder das Prüfen der Wasserdichte der Hüte der Gäste des Hauses anstanden, ihre separaten Regeln, legten sich Beschränkungen auf oder ersannen Privilegien.
Die ukrainische Schriftstellerin Natalia Sniadanko aus Lemberg entwirft in ihrem Roman ein buntes und gesellschaftlich weites Panorama von 1895 bis 2008, erzählt von königlichen Schlössern und Yachten sowie dem Leben in der Sowjetunion, von Außenseitern und erotischen Eskapaden, der Liebe zum Wasser und würzigem Essen, traditionellen Ostern und Weihnachten, Krieg und Gefangenschaft, und alles Leben samt den darin verfangenen Beziehungen in sich zuspitzenden politischen Konflikten. Fiktion und Geschichte, das Gestern und Heute, Reich und Arm, alles geedelt und geadelt von der Autorin erzählerischen Gabe und himmeljauchzender Fabulierfreude. Es sei aber auch nicht verschwiegen, dass das Konstrukt „schillernder Erzherzog“ da und „die übertriebenen Sorgen einer Gluckenmutter um den schulischen Erfolg ihres Sprösslings im kommunistischen Lemberg“ dort, sich so gar nicht auf der gleichen erzählerischen Hochebene befinden. Daher die Frage:
Was ist und will nun dieser komplex zwischen den verschiedenen Zeitebenen und unzähligen Episoden mit historisch legendärem und fiktivem Personal herumhüpfende Text?
Das Buch ist einmal eine – oft in Mythen und Legenden festgefahrene – Biographie des bisexuellen Erzherzogs Wilhelm, der in Pula geboren, in realiter 1848 in Kiew in der damaligen Sowjetunion starb. Der rote Erzherzog, wie er später wegen seiner Nähe zu Bauern und einfachen Leuten genannt wurde, träumte davon, König der Ukraine zu sein. Immerhin erreichte er, dass in einem geheimen Zusatzprotokoll zum Frieden von Brest-Litowsk Ostgalizien Autonomie zugestanden wurde. Für kurze Zeit. Wilhelms Ambitionen, höchste politische Ämter in der Ukraine zu erreichen, scheiterten 1918 endgültig und spektakulär. Dennoch, der Erzherzog fühlte sich zeitlebens in seiner Seele als Ukrainer und war an der Front im Ersten Weltkrieg einem ukrainischen Regiment vorgestanden.
Der Roman schildert das komplizierte Verhältnis von Russland, Österreich, Polen und Deutschland zur Ukraine im und nach dem Ersten Weltkrieg, wo alle ihre eigene Interessen verfolgten, Zeitabschnittsverbündete suchten, um der politischen Weltkarte ihren eisernen Stempel aufzudrücken. Wilhelms Ansichten zur Selbstbestimmung der Ukraine deckten sich weitgehend mit denjenigen des Metropoliten Scheptyzkyj, der wollte, dass das Land von einem erfahrenen europäischen Monarchen regiert würde, der dem russischen und polnischen Druck standhalten könnte. Und Kaiser Karl „imponierten die ukrainischen Pläne seines Cousins Wilhelm sehr und in seiner Vorstellung floh er bereits vor dem Deutschen Kaiser, vor der Herzogin und vor allen anderen, die ihn tagtäglich mit Lappalien belangten. Floh nach Lemberg, wo sein Freund Willy König sein würde und gemeinsam würden sie die Lemberger Bordelle besuchen.“
Der Roman wühlt mit Lust und einer guten Portion Voyeurismus im Privaten der handelnden Personen. Er zieht seine Furchen zwischen der weiblichen Hauptfigur Halyna, der Enkelin von Wilhelm und Sofia, ihrem an Gluten- und Laktoseunverträglichkeit leidenden Sohn Oles, ihrem von Schmuggel aller Art lebenden Mann Hryz und natürlich dem für den Roman reanimierten Opa Wilhelm samt Familie.
Die Leserschaft erfährt von den wahrlich aristokratisch getakteten Sommern auf der Insel Lussin in der Villa Podjavori aus weißem Stein an den Hängen des Monte San Giovanni gleich viel wie vom zeitweise verpfuschten Leben der nach dem Vorbild ihrer Großmutter Sofia malenden und sich später in Bar-Innenarchitekturen übenden Halyna. Von ihrer anderen Großmutter, Babuschka Aljona, die zwei Tage vor ihrem Tod Heißhunger auf Hering entwickelte, erbte Halyna eine Dreizimmerwohnung in einem Lemberger Plattenbau. Halynas Mutter Alina arbeitete als wissenschaftliche Assistentin am Institut für Psychologie der Uni Lemberg. Die Schwierigkeiten bei und nach der Geburt ihres Sohnes Oles, das Gefühl des Unverstandenseins von ihrem Mann, das heftige Depressionen bei Halyna auslöste, trifft den Leser wie eine unangenehm kalte Dusche nach dem ganz nach dem Motto „unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ gestrickten Lebenswandel des Erzherzogs in wahrlich märchenhaft dahinfabulierenden Beschreibungen.
Die größte Sympathie der Autorin gilt wohl Sofia, Wilhelms Gattin und Halynas Großmutter. Sie führte nach dem glanzvollen Leben als Frau des habsburgischen Erzherzogs eine kleine Schneiderwerkstatt im kommunistischen Lemberg, sammelte ein ganzes Leben lang Frauenzeitschriften und wusste deshalb Dinge, über die in sowjetischen Frauenzeitschriften nicht geschrieben wurde. Nie nörgelnd oder pessimistisch, immer mit offenem Ohr, stets dem eigenen Gespür folgend, ist sie der Engel gewordene Geduldsmensch im wuselnden Treiben von Umbruch zu Umbruch. Ihr zur Seite das unbeugsame Dienstmädchen Bronislaw, die ihren Mann, den Lokführer Felix Pfeiffer, verlassen hatte, um mit ihrem Geliebten, einem Architekten, exotische Länder zu bereisen und so ihren Traum zu verwirklichen, die Welt zu sehen. Derselbe Felix Pfeffer wurde Jahre später der Liebhaber von Sofias reicher Tante, bei der Sofia, um die begehrten Sechsgroschenmünzen für Süßigkeiten im Park zu ergattern, ekelhaft stinkende Pfefferminzzuckerln lutschen musste.
Das Buch enthält nicht zuletzt appetitanregende ausführliche Beschreibungen vom Essen und Kochen, vom Fastenbarszcz, Piroggen, Wareniky, Krautrouladen und Katja bis zur Backmischung ‚Kosmos‘ und Kornbrand von Baczewski. Tipps, wie man Zwiebel schneidet, ohne die Augen zu reizen, oder Salat mit und ohne Mayonnaise zubereitet, lassen bisweilen an ein Kochbuch denken, alles aus längst verfallener Zeit, was sowohl die verführerischsten Gerichte in der Kaiserzeit als auch die heute nostalgisch verklärten Köstlichkeiten im damals kommunistischen Osteuropa angeht.
Sniadankos „Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde“ kam 2017 heraus, zu einer Zeit als vielen der russische Angriffskrieg 2022 auf die Ukraine noch als schiere Unmöglichkeit schien. Da lesen sich die wortreichen Beschwörungen der Tapferkeit der ukrainischen Soldaten wie aktuelle journalistische Meldungen von der Front. Die Lobreden auf die ukrainische Heldenhaftigkeit schlängeln sich wie ein Leitmotiv durch „Großvaters Erzählungen.“ 1918 war es, als Wilhelm unter einem Tuberkulose-Rückfall mit heftigen Hustenattacken in Czernowitzer Krankenhaus litt. Hier gleitet die Erzählung mit den Sitsch-Schützen und Wilhelms fiebriger Rede vor den Soldaten schnell in Hagiographie, die Legenden- und Heldengeschichte vom österreichischen Erzherzog, der zum Polen erzogen wurde, aber für sich die ukrainische Identität gewählt hatte, in märchenhafte Gefilde hebend.
Tief taucht Sniadanko in das Intimleben des Erzherzogs. Eine zentrale Rolle spielt hier Iwan, Sohn eines ukrainischen Bauern und später nicht nur Wilhelms Offiziersbursche. Gemeinsam konnten sie jede Tischgesellschaft ein paar Stunden lang mit ukrainischen Liedern unterhalten. In Wien entspann sich mit der schönen Maria eine Menage à Trois. Die Vaterschaft der Tochter, die eine berühmte Sängerin wurde, schob Maria sowohl Iwan als auch Wilhelm in die Schuhe. Einmal sah Wilhelm die junge Musikerin in einem Konzert, wagte aber nicht, sie anzusprechen.
1926 lieh sich Wilhelm eine hohe Geldsumme von den Esterházys, was ihm erlaubte, fünf Jahre mit seinem Kater und dem arabischen Diener Maurice Neschadi unweit von Paris in einer Villa seinen erotischen Vorlieben zu frönen und gleichzeitig betrügerische Machenschaften zur Abhilfe aus der notorischen Geldnot zu ersinnen. In der Pariser Boulevardpresse mokierte man sich über den österreichischen Erzherzog und andere Aristokraten, die nachts in Frauenkleidern durch die Stadt zogen. Iwan wiederum verließ im Gegensatz zu Wilhelm Österreich Richtung Schweiz, wo er eine Stelle als Lateinlehrer in einem Gymnasium annahm und Wilhelm bis an sein Lebensende kleine Geldbeträge in Valuten ins sowjetische Lemberg schickte.
Oberhalb der historischen Grundierung, bei der auch Sissi und Kaiser Franz-Joseph genau so wenig fehlen wie der spanische König Alfonso XIII., unterhält das Buch mit vielen Geschichten und Geschichterln. So trug Wilhelm in seinem sowjetischen Leben den Namen Herr Wassyl Wyschywanyj, was soviel wie „Wilhelm der Bestickte“ nach den in ukrainischer Manier geschneiderten und verzierten Hemden heißt.
Eine der lustigsten Episoden erzählt die Autorin über die Spekulationsumtriebe von Wilhelm, respektive die Schachereien in Anna Iwaniwnas Büro. „Wilhelm hatte sich relativ schnell an die sowjetischen Gepflogenheiten angepasst. Er hatte einen genauen Plan, dem zufolge er zuerst mit Blumen, Kognak und Komplimenten zur Vorsteherin eines Ladens ging, die ihm zu einem guten Preis Mangelware verhökerte und dann zu Anna Iwaniwna, die stets erfolgreich verkaufte, was Wilhelm brachte und ihm seinen Anteil ausbezahlte.“ Über die Fahrt des ersten Automobils in Lemberg steht geschrieben: „Es klappert wie eine alte Oma mit Schüttelfrost, keucht wie ein asthmatischer Elefant und blökt wie ein schlecht geschlachteter Ziegenbock… Vielleicht wird irgend wann Brot aus diesem Mehl, aber derweil ist es nur ein nettes Spielzeug.“
Eine kleine Spionagegeschichte, natürlich in Wien, wo Iwan bei Frau Leberich mit den unergründlichen Wutanfällen in ihrer Pension im dritten Bezirk lebt, findet sich im auslaufenden Buch. Wilhelm, der französische Spion Paul Maas und die schöne Partisanin Sofia helfen geflüchteten Ukrainern mit Papieren aus. Das geheimdienstliche Dreigespann trifft sich im Wiener Musikverein beim Cellokonzert. Der Franzose fliegt irgendwann auf, die andern sind wieder einmal auf der Flucht vor dem Gefängnis.
Das Ende des Zweiten Weltkriegs mit den vier Besatzungsmächten: Wilhelm ist mit Sofia nach München unterwegs. Trümmer, Notunterkünfte, Passagierscheine und ein sowjetischer Geheimdienst, der sich nicht die Mühe macht, jemanden wochenlang auszuforschen, wie es die Gestapo gemacht hat. „Sie verhaften Leute einfach auf der Strasse, nicht nur in ihrer eigenen Zone, sondern in allen. Wenn die österreichische Polizei erfährt, dass eine Person von den Sowjets gefasst wurde, forscht sie nicht nach und mischt sich auch nicht ein.“
Über das Leben Wilhelms, Sofias und von deren Sohn Taras im Nachkriegs- Lemberg enthüllt der Roman nur Karges, wie etwa über eine Geburtstagsfeier mit Zwiebellaibchen oder die ewige Angst, deportiert zu werden.
Großvater Wilhelm starb fiktiv am 10. Februar 1985 im hohen Alter von neunzig Jahren. Er war nach dem Mittagessen eingenickt, während er auf Halyna, die aus dem Institut nach Hause kommen wollte, wartete. Wilhelm wurde in der Gruft der Familie Lewynskyj auf dem Lytschakiwski-Friedhof in Lemberg beigesetzt.
Natürlich gilt auch hier, wie es im letzten Satz des Buches so schön formuliert ist: „Wir alles wirklich war, wird keiner mehr erfahren, außer denen, die es immer gewusst haben.“
Die Übersetzung des Romans besorgte durchaus gründlich und virtuos Maria Weissenböck. Dass sie beim Tiroler Haymon Verlag den deutschen Lesermarkt bedienend das Vokabular entsprechend dem größeren Leserkreis wählte, mag angehen. Aber muss es wirklich sein, dass das hässlichste aller hässlichen umgangssprachlichen Wörter, nämlich „lecker“, gleich mehrfach vorkommt? Nein, das darf nicht sein.
Abgesehen davon ist dieser anekdotenreiche, prall historisch-jetzige Roman uneingeschränkt zu empfehlen. Zumal die Moral von der Geschichte gefällt: Menschliche Beziehungen im Zueinander aller Art sind es letztlich, die kreuz und quer über alle politischen Konflikte, Generationenwechsel und Zeitenumbrüche hinweg unsere Gesellschaften erst lebenswert machen. Der Roman ist nicht zuletzt ein Plädoyer für Lebenskunst und Leichtigkeit im scheint’s Aussichtslosen, für mutige Überzeugungen und die Selbsterfindung im Schreiben und Lesen.
Natalia Sniadanko
Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde
Haymon Verlag, Innsbruck 2022
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